Ostermontag, 23. April 1984

„Einen habe ich noch“, ergänzt „Assi Blaschi“ sein blasphemisches „Urbi et orbi“ von gestern: „Jetzt können wir nur noch ficken“.

Diesen Spruch soll ein prominenter Schauspieler in brachialer Brecht-Theatralik über unsere Zukunft nach dem Prager Frühling gebracht haben.

Damit will „Blaschi“ mir zu verstehen geben, dass er mich versteht, so jung wie möglich aussteigen zu wollen. Wäre er 40 Jahre jünger und noch so grün hinter den Ohren wie ich, würde er es vielleicht auch versuchen.

Wozu das System von innen reformieren, wenn sich Millionen Menschen mit dem realen Sozialismus arrangiert haben? Wer jung heiratet, schnell Kinder kriegt und seiner Arbeit pünktlich nachkommt, kann ein durchaus anständiges Leben führen.

Nur wer seine Schnauze nicht halten kann, wird keine Ruhe haben. So einfach funktioniert das System, in dem alle Angepassten FKK am Ostseestrand machen und Erotisches Fernsehballett haben können. Warum in die Ferne reisen, wenn Befriedigendes liegt so nah?

Er glaubt zwar nicht daran, dass mein in seinen Augen spontaner Fluchtplan funktionieren wird (siehe Dienstag, 10. Januar). Aber er drückt mir die Daumen. Vielleicht wird es mir wie dem Schriftsteller Jürgen Fuchs ergehen, der nach neun Monaten Haft abgeschoben wurde.

Mal sehen, wer eher drüben ist – ein alter Loser kurz vor der Rente wie „Blaschi“ oder ein junger Hans im Glück wie ich, beendet er seinen Ostermarsch durch den Osten.

Mir fehlen die Worte, wie schwer ich ihn unterschätzt habe. Dieser „asoziale“ Wiederholungstäter (siehe Sonntag, 25. März) hat mich mit seinen Storys in wenigen Tagen mehr ins Grübeln gebracht wie kein Hochgeschwindigkeits-Geschichtslehrer in der Schule.

Sie mussten mit uns im Schweinsgalopp durch viele Tausend Jahre reiten, um so schnell wie möglich vom Urknall bei der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution zu landen.

Wenn es die Rhetorik erlaubt hat, waren Spartacus, Martin Luther und Thomas Müntzer potenzielle Marxisten gewesen. Und spätestens seit Lenin dreht sich die ganze Welt sowieso nur in eine Richtung.

Mir wird allmählich klar, dass „Blaschi“ in mir Ikarus sieht, der abstürzen wird, während er sich für Daidalos hält, der aus Erfahrung überlebt (siehe Dienstag, 27. März). 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

💡 Sie haben einen Linkedin-Account? Dann können Sie meinen Newsletter „Der 18-Jährige, der einen Zettel schrieb und verschwand“ abonnieren ✔︎ 

Matomo