Mittwoch, 25. April 1984

Was wäre aus mir geworden, wenn die Zone ein freies Land wäre und es keinen Grund gäbe in ein noch freieres abzuhauen?

Sicher kein philosophisch angehauchter Dichter und Denker, der ich tatsächlich zu werden drohte. Viele sehen in mir den ungehobelten Renitenten, der nichts als deftig austeilen kann. Dieser Trotz ist reine Fassade.

Was nur mein Mittäter Jens (siehe Freitag, 6. Januar) und die Stasi wissen: Wir trugen sehr viel Lehrgeld in „Das internationale Buch“ in Berlin. Dort kaufte ich u.a. Bücher über Georg Wilhelm Friedrich Hegel und er von Hermann Hesse.

Ja, in meiner Freizeit interessierte ich mich ernsthaft für Psychologie und Philosophie. Hauptsächlich mit dem Ziel, der staatlich verordneten Ideologie kontra geben zu können, die wir nicht nur im theoretischen Unterricht, sondern überall und ständig ertragen müssen, wo Bonzen ihr Unwesen treiben.

In Klassenarbeiten zu einschlägigen Themen kassierte ich regelmäßig Bestnoten, weil ich genau weiß, was die „Intelligenz“ hören, lesen und zensieren will:

Hauptberuflich Trekker fahren und nach Feierabend die Zone verändern wollen, ist jedoch Zeitverschwendung. Früher oder später endet jede politische Diskussion in einer Endlosschleife mit beinharter Ablehnung. Entweder ich füge mich dem Dogma oder ich ende als Assi im Knast (siehe Sonntag, 25. März).

Wenn die Zone ein freies Land wäre, würde ich keine hilflosen Lieder texten und mit Gitarre singen wollen, wie ich es als umtriebiger Punk getan habe.

Wenn es die Umstände erlaubt hätten, wäre ich viel lieber ein Elektrobastler, Motocrosser oder Handwerker geworden. Irgendwas mit Wohnküche in einer riesigen Werkstatt, damit ich wie im Kinofilm „Männer ohne Nerven“ mit meiner Maschine direkt vor die Couch fahren kann. Oder eine Tischlerei, denn die Arbeit mit Holz fühlt sich wirklich gut an.

In besseren Zeiten hatte ich tatsächlich das Talent, ausrangierte Telefone zu verkabeln, abgerauchten Röhrenradios neues Leben einzuhauchen und verschmorte Zündspulen wiederherzustellen.

Mein Onkel Rolf, der Vater von Lutz (siehe Montag, 30. Januar), zeigte mir, wie man Glas schneidet und zu großen Aquarien verklebt. Er schenkte mir Zubehör, Fische und Wasserflöhe, die wir aus einer Quelle in der Nähe seines Bungalows kescherten. Kann ich damit handeln?

Lutz ist ein begnadeter Tischler, der alles bauen und reparieren kann, was brauchbar ist. Wir hätten schicke Möbel bauen oder einen Rennstall gründen und es wie Melkus zu internationalem Ruhm bringen können.

Vielleicht hätte ich mit meinem Bruder einen Computerladen aufgemacht. Im Westen braut sich was zusammen, was den Osten eher früher als später einholen und verändern wird.

Mit der Unterstützung meines Vaters hätte aus mir ein Musiker werden können, der nach Feierabend durch die Gegend tingelt und auf Volksfesten auftritt. Denn den Hang, mich zu produzieren und mit eher schweinischen Liedern zur Laute für gute Stimmung zu sorgen, hatte ich seit frühester Kindheit (siehe Mittwoch, 1. Februar).

Womit wir wieder am Anfang wären. „Das alles und noch viel mehr“ liegt in den Händen verlogener Betonköpfe, die darüber entscheiden, wo ich arbeiten, wohnen und dienen darf. Wer sich für viele Jahre Armee verpflichtet, kann es leichter haben (siehe Donnerstag, 9. Februar). Doch wer sich eine selbstbestimmte Existenz aufbauen will, lebt schlicht im falschen Land. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo