Sonntag, 25. März 1984

Mein zwölftes Wochenende im Knast. Weitere 27 vor mir, wenn ich die volle Zeit absitzen muss. In acht Wochen ist Halbzeit. Mindestens 14 werden es noch sein, bevor ich mit Abschiebung oder Freikauf rechnen kann.

Mein neuer „Untermieter“ ist wesentlich klüger, als ich mir einen echten Asozialen vorgestellt habe. Die paar, die ich kenne, lungern werktags vor Kaufhallen herum und sind am späten Vormittag stockbesoffen.

Assi Blaschi“ gibt sich väterlich. Er kommt aber genau wie mein Stiefvater ziemlich oberlehrerhaft rüber. Anders als „Vati“ versucht er wenigstens nicht, mich für dumm zu verkaufen. Trotzdem geht er mir mit seiner altväterlichen Klugheit auf die Nerven.

Denn was er weiß, gefällt mir gar nicht. Zum Beispiel, dass der „Asozialenparagraph“ 249 einer der bösesten Gummiparagraphen ist, den die Republik je gesehen hat.

Alles, was nicht so recht in politische Schubladen wie „Ungesetzliche Sammlung von Nachrichten“ (§ 98), „Staatsfeindliche Hetze“ (§ 106), „Ungesetzlicher Grenzübertritt“ (§ 213), „Ungesetzliche Verbindungsaufnahme“ (§ 219) oder „Öffentliche Herabwürdigung“ (§ 220) passt, kann im Zweifel als „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“ (§ 249) geahndet werden.

Wirklich pervers daran ist, dass einem der „Assi“ ein Leben lang anhaftet. Egal, ob man ein wohnungsloser Landstreicher, versoffener Faulpelz oder anormaler Abweichler ist – „asozial“ klingt in jedem Fall hässlich.

So gesehen habe ich großes Glück gehabt, politisch geadelt worden zu sein – so wie ich es geplant hatte. Für „versuchte ungesetzliche Grenzüberschreitung“ alias „Republikflucht“ werde ich mich im Westen kaum rechtfertigen müssen.

Der Wind kann sich jedoch jederzeit drehen. Zum Beispiel, wenn sie mich im Oktober ganz normal rauslassen und zu irgendeiner dreckigen Arbeit zwingen, die mich kaputt macht. Soweit darf es nicht kommen.

Deshalb gestern meinen Eltern geschrieben, dass ich am 12. März zu neun Monaten Freiheitsentzug verurteilt wurde. Bei der Gelegenheit meinen dritten oder vierten „Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR“ erneuert.

Diesmal ohne politische Prosa wie in meinen früheren Schreiben an die Stasi, sondern mit Verweis auf die Schlussakte von Helsinki auf meine Reisefreiheit bestehend. So wie mein Rechtsanwalt es mir vor dem Prozess geflüstert hat.

In einer Woche ist wieder Sonntag. Dann sind es nur noch 26 bis zum bitteren Ende und sieben bis zur Halbzeit. Und mit etwas Glück nur 13 bis zur Großen Freiheit. In jedem Fall noch viele Gelegenheiten leise „Sonntag“ von Manfred Krug zu summen: „Sonntag – häng’ den Pelz in den Spind / Sonntag – wärmer weht heut’ der Wind / Alle Blumen blüh’n und es ist Frühling da …“.  𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽

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Matomo