Sonntag, 18. März 1984

Elfter Sonntag in U-Haft. Seit Montag als Strafgefangener. „Im Namen des Volkes“ neun Monate Knast kassiert. Das sind 274 Tage und Nächte. 72 habe ich hinter mir. Bleiben noch 202.

Warten auf Abtransport in ein richtiges Gefängnis. Damit können sie sich gerne Zeit lassen. Lieber Strafgefangener in einer „gemütlichen“ U-Haft, als im dreckigen Dutzend in einer überbelegten Großraumzelle.

So sieht es „Blaschi“, mein neuer Kollege, den sie mir gestern ins Verließ geschubst haben. Ein freundlicher alter Herr aus Stralsund, der genau wie ich „freiwilllig“ hier ist. Sein Verbrechen: „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“.

Wie geht das denn? Das ist ganz einfach. Wenn du über 60 bist, dein Leben lang gearbeitet und auf den letzten Metern keinen Bock mehr hast.

Früher ist er als fahrender Scherenschleifer über die Dörfer gezogen. Irgendwann durfte er kein selbstständiger Handwerker mehr sein und musste in die „Produktion“.

Mangels passender Qualifikation hat er alles machen müssen außer Messer oder Scheren schleifen dürfen. Eines Tages hatte er die Schnauze voll und ist einfach daheim geblieben. 

Das ist nach Paragraph 249 des Strafgesetzbuchs der DDR verboten. Wer „sich arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft“.

Dabei musst Du kein Alkoholiker, Penner oder Landstreicher sein. Es reicht, wenn dir Dein Geld, dass du gespart hast, zum Leben reicht und du einfach nicht mehr arbeiten willst. 

Beim ersten Mal hat er „nur“ sechs Monate kassiert. Beim zweiten Mal ein Jahr. Diesmal sind es zwei Jahre. Zum Glück soll es seit 1977 keine „Arbeitserziehung“ mehr geben. Das sind Arbeitslager, in denen man schwer rangenommen wird.

Gefängnis macht ihm nichts mehr aus. Wenn er in einen „ruhigen“ Knast wie zuletzt kommt, sei alles gut. Sobald er wieder draußen ist, wird er endlich Rentner sein. Geld habe er genug, um sich dann in den Westen abzusetzen.

Das ist eine der krassesten Geschichten, die ich je gehört habe. Dabei macht „Blaschi“ überhaupt keinen greisen Eindruck. Er scheint sich auszukennen und spricht wie ein Schlaumeier.

Plötzlich habe ich ein Horrorszenario vor Augen: Was, wenn sie mich nach neun Monaten in den Osten entlassen und ich bis zum nächsten Fluchtversuch keine würdige Arbeit mehr finde?

Keine Panik! Noch kann Plan A funktionieren. In frühestens sechs Wochen kann ich Plan B aktiveren. Über Plan C mache ich mir Gedanken, wenn es soweit ist.

Leise stimme ich „We have all the time in the world …“ von Luis Armstrong an. Mal sehen, wie „Blaschi“ auf meinen „Sing a Song“-Tick reagiert. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo