Montag, 19. März 1984

Anders als sein „Vormieter“ Andi reagierte „Blaschi“ auf meine leise Gesangseinlage gestern Abend völlig gleichgültig. Ein geräuschvoller Furz aus seinem Auspuff hat ihn mehr erfreut.

Udo Lindenberg, Neue Deutsche Welle oder gar Punk werde ich mir bis auf Weiteres abschminken können. Dafür ist er ein lebendes Lexikon. Er hat ein Bündel Kreuzworträtsel mitgebracht, die er akribisch durchackert.

Bei den Schließern scheint er kein Unbekannter zu sein. Sie reden ihn weniger scharf an als mich. Und sie haben ihm sogar den „Troll“, die „Wochenpost“ und einen Stift gelassen.

Die „Wochenpost“ ist eine der wenigen Zeitungen in der Zone, die mein Stiefvater abonniert hat, der alles ablehnt, was wie das „Neue Deutschland“ unverdauliches „Rotfront“-Gesülze erbricht.

Anders als die widerlichen Agitprop-Postillen „Freiheit“ oder „Junge Welt“ schreibt die „Wochenpost“ deutlich unverkrampfter über Kunst, Kultur und Wissenschaft.

Während „Blaschi“ sich auf die Kreuzworträtsel im „Troll“ stürzt, fresse ich die „Post“. Beschämt realisiere ich, dass ich seit meinem letzten Schuljahr 1982 so gut wie keine Zeitungen oder Zeitschriften mehr gelesen habe.

Im Lehrlingswohnheim hätten wir die „Aktuelle Kamera“ im DDR-Fernsehen schauen können, was so gut wie keiner tat. Nachts konnte ich heimlich „SR1 Europawelle Saar“ mit meinem kleinen Röhrenradio (siehe Sonntag, 4. März) hören.

Das ging, wenn der Sender bei „Überreichweite“ es mit auf- und abebbenden Störungen bis an die Küste schaffte, was vom Wetter abhing. Tagsüber war nur atmosphärisches Rauschen zu vernehmen.

Das hatte einen Riesenvorteil. Wenn ich das Radio ausschaltete, brauchte ich nie den Sender zu verdrehen, um Ärger zu vermeiden. Den gab es, weil unser Heimleiter ständig in unseren Zimmern herumschnüffelte, wer Verbotenes hörte oder las.

Ein Kollege musste sich für ein Poster in seinem Zimmer rechtfertigen, auf dem westliche Kunst zu sehen war. Er sollte es entfernen. Erst als er die östliche Herkunft des Drucks zweifelsfrei nachweisen konnte, gab unser „Herbergsvater“ nach. 

Wenn Andi noch in meiner Zelle säße, würde ich jetzt „Tri tra trullala“ von Joachim Witt anstimmen: „Ey, lasst das sein, Kinder / Ihr seid wohl ganz versessen … Ich bin euer Herbergsvater / Und sage hey, hey …“. Aber das ist so sicher, wie das Amen in der Kirche nichts für „Blaschi“. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo