Mittwoch, 11. April 1984

Der lange Brief von Antje schwirrt mir immer noch im Kopf herum. Vor über drei Monaten habe ich mich aus ihrer Welt verabschiedet, in der ich 492 Tage und Nächte gerne gelebt, viel gelernt und gutes Geld verdient habe.

Was mir Gahlkow von Anfang an sympathisch machte, ist die herrliche Abgeschiedenheit des Ortes. Von Halle bis Greifswald sind es ca. 450 Kilometer. Mit dem Nachtzug dauert die Fahrt mindestens sechs bis acht Stunden (siehe Donnerstag, 12. Januar).

Werktags fahren drei Busse vom Greifswalder Bahnhof direkt gegenüber meiner Zelle, in der ich heute sitze (siehe Sonntag, 8. Januar) – morgens, mittags und abends. Sonst muss man den Bus nach Lubmin nehmen, bei Vierow aussteigen und etwa zwei Kilometer laufen.

Das Lehrlingswohnheim befindet sich in einem ehemaligen Gutshaus mit einer angebauten Baracke aus Stein, in der ein Großteil der Unterkünfte und die Kantine untergebracht sind.

Im schräg gegenüberliegenden Gebäudeteil sind die Zimmer der Mädchen und das Waschhaus. Mitten im Hof ein Flachbau mit verschlossenen Türen. Dahinter eine riesige Werkstatt für Traktoren, ein Pferdestall und eine Koppel.

Bis zum Strand am Greifswalder Bodden sind es zwei Kilometer. Dort gibt es einen Campingplatz und eine Kneipe. Das Atomkraftwerk russischer Bauart im fünf Kilomenter entfernten Lubmin könnte ein Garant dafür sein, dass sich keine Bonzen hierher verirren.

Über die Insel Usedom bis zur Grenze nach Polen sind es etwa 60 km. Die ist jedoch dicht, weil im „Bruderland“ Kriegsrecht herrscht. Noch so ein Ding, zu dem ich mich als Student früher oder später hätte „bekennen“ müssen (siehe Montag, 9. April).

Dann lieber Gahlkow im „Zonenrandgebiet“ in dem erst vor wenigen Jahren der letzte Wolf erlegt worden sein soll. Noch weiter weg von zu Hause, das mir gestohlen bleiben kann, ist nur Kap Arkona.

„Dich kenne ich“, sagte der Typ in einem Glaskasten beim Empfang, der mir ebenfalls bekannt vorkam, als ich das Lehrlingswohnheim zum ersten Mal betrat.

„Du bist ein Punk aus Halle-Neustadt!“. Recht hat er. Zwar trage ich keinen Iro mehr. Doch meine Johnny-Rotten-Frisur, meine hauteng genähte Kochhose, das Fleischerhemd und die verspiegelte Sonnenbrille haben mich verraten.

Daran habe ich in meinem jugendlichen Leichtsinn gar nicht gedacht, als ich mich im August 1982 auf den Weg in die Lehre machte. Gut dass ich wenigstens meine Sicherheitsnadel im Ohr gegen einen harmlosen Ohrring getauscht habe.

„Stimmt, und Du?“. „Lücki“. Aus Halle-Neustadt. Im zweiten Lehrjahr. Heute Lehrling vom Dienst. Die anderen sind arbeiten. Bis alle da sind, können wir mehr als eine rauchen und uns unterhalten. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo