Donnerstag, 12. Januar 1984

Es passiert nichts. Viele Stunden brutale Stille. Zweifel kommen auf. Warum habe ich mir das angetan? Exponentialdrift in die Vergangenheit – Frühjahr 1983 …

 „Sie wissen, dass Sie nicht einsteigen dürfen?“. Der Fahrer siezt mich, was selten vorkommt.

„Sie wissen, dass Sie nicht anhalten dürfen?“, kontere ich und steige ein.

Irgendwo bei Berlin auf dem Weg von Halle nach Greifswald. Der Westwagen sieht aus wie ein Raumschiff. Das riesige Armaturenbrett mit unzähligen Anzeigen, Lämpchen und Reglern bestückt. Als ich die Tür zuziehe, legt sich ein leichter Druck auf die Ohren. Beim Anfahren so gut wie keine Geräusche. Dann sanftes Dahingleiten bei leisester Musik. Ohne Kopf zwischen den Knien. Dafür reichlich Platz nach vorn.

„Was würden Sie tun, wenn ich von der Stasi wäre?“, fragt der Fahrer.

„Dann wäre ich nicht eingestiegen“, antwortete ich.

„Was hat mich verraten?“

Einfach alles. Außerdem ist es ein Unterschied, ob ich auf einer Raststätte Westautos anquatsche oder abseits der Autobahn im Dämmerlicht einen Daumen in den Wind halte. Das würde sogar die Stasi verstehen, wenn ich wieder aussteige.

„Wollen Sie aussteigen?“

„Noch nicht. Dafür bin ich schon zu lange unterwegs. Außerdem wird es dunkel. Und mir ist kalt.“

„Wo wollen Sie hin?“

„Nach Greifswald.“

„Zu Fuß?“

Von Halle bis zur Raststätte Michendorf geht es per Anhalter meist recht schnell. Dann muss ich mich entscheiden, wo ich die Nacht verbringe, wenn ich keinen finde, der um Berlin herum fährt. Je kälter der Abend, desto eher laufe ich lieber bis zum nächsten Bahnhof und nehme die S-Bahn nach Oranienburg. Von dort geht es auf der F96 in zwei bis drei Etappen und meist zu Fuß durch Neubrandenburg oder Neustrelitz weiter.

Wieso die ganze Strecke nicht gleich mit dem Zug? Nur wenn es richtig kalt ist. Sonst trampe ich lieber. Das ist billiger. Und gibt mir das Gefühl von Freiheit.

Was machen Sie in Greifswald? Eine Lehre. Keine Armee? Wenn, dann als Bausoldat. Oder als Verweigerer im Bau. Lieber zwei Jahre sitzen als 18 Monate auf der falschen Seite stehen. Gespanntes Schweigen.

Schon mal daran gedacht, in den Westen abzuhauen? Ständig, seit ich zwölf bin.

Wie wollen Sie das anstellen? Per Ausreiseantrag dauert ewig. Die grüne Grenze ist zu vage. Die Ostsee zu kalt. Und über die Mauer endet meist tödlich. Bleibt eigentlich nur die Hoffnung auf eine günstige Gelegenheit, fasse ich meine verworfenen Pläne zusammen.

Wenn ich aus politischen Gründen im Gefängnis lande und die richtigen Leute im Westen davon erfahren, hätte ich gute Chancen, früher oder später freigekauft zu werden, sagt er. Davon habe ich schon mal gehört. Aber niemand weiß was genaues. Und ich kenne keinen einzigen Fall, an dem ich mich orientieren könnte.

Am Potsdamer Bahnhof steige ich aus. Jetzt sitze ich in dieser dunklen Zelle. Und warte, dass etwas passiert. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽…

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Matomo