Montag, 9. April 1984

Schon wieder von Antjes Brief geträumt. Kein Wunder, nachdem ich ihn gestern gut und gerne zehnmal gelesen habe. Wenn sie wüsste, wie gut mir die banalen Dinge tun, die sie mir geschrieben hat (siehe Samstag, 7. April).

Mir wird klar, wie sehr mir die 16 Monate Lehrzeit vom 1. September 1982 bis 6. Januar 1984 tatsächlich gefallen haben. Damit hätte ich nicht gerechnet, als meine Mutter und ich den Lehrvertrag im November 1981 unterschrieben.

Ein Studium kam nicht mehr infrage. Zum einen, weil meine schulischen Leistungen ab der achten Klasse für die Erweiterte Oberschule (EOS) unzureichend waren. Zum anderen, weil die sogenannten Kopfnoten im Abschlusszeugnis keine Zweifel an meiner Gesinnung ließen (siehe Montag, 5. März).

Auf Auswendiglernen und Rezitieren von dogmatischen Phrasen wie „Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“ hatte ich einfach keinen Bock. Künftige Pflichtfächer wie „Wissenschaftlicher Kommunismus“ oder ähnliche Wurmfortsätze waren mir zuwider.

Noch schlimmer wäre die politische Erpressung gewesen, der ich mich mit dem Erhalt eines Studienplatzes hätte aussetzen müssen. So ist es unter anderem dringend ratsam, sich „freiwillig“ zu drei Jahren Armee zu verpflichten (siehe Donnerstag, 9. Februar).

Exmatrikulierte oder solche, die noch nicht wissen, dass sie es bald sein werden, kenne ich einige. Sie laufen in der „Jungen Gemeinde“ herum, die ich mir vor wenigen Jahren sehr genau von innen ansah.

Die Junge Gemeinde ist ein Treffpunkt für evangelische Christen, ehrliche Häute und kluge Köpfe. Hinzu kommen kreative Spinner, aufrichtige Protestler und widerspenstige Punks – sowie hinterlistige Stasispitzel.  

Wer einmal einen Diskussionsabend oder ein getarntes Rockkonzert im Schutz der Jungen Gemeinde besucht hat, landet so sicher wie das Amen in der Kirche auf einer Liste, die jederzeit das vorzeitige Ende eines Studiums bedeuten kann.

Vorzugsweise auf den letzten Metern, wenn den leeren Sprüchen in überflüssigen Studienfächern an irgendeiner staatlichen Uni klare Bekenntnisse zur Partei, „die immer recht hat“ folgen müssen  – wie zum Beispiel für den Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan zu sein.

Von wegen „das System von innen verändern“, wie naive Studenten tatsächlich glauben. Bis sie als staatlich geprüfte Dr. Sonstwer an den Stellen sitzen, wo sie wirklich was bewegen können, sind sie längst selbst Teil des Systems, gegen das ihre Kinder rebellieren. 

Dann lieber kein Studium, sondern was Handfestes wie zum Beispiel „Trekkerfahrer“, wie wir in der Lehre über uns „Agrotechniker/Mechanisatoren“ selbst lästern. Was auf den ersten Blick wie ein einfacher Beruf aussieht, ist eine verdammt praktische Ausbildung, bei der ich mir von Anfang an bis zu meiner Verhaftung und darüber hinaus treu bleiben kann. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo