Samstag, 7. April 1984

Gestern Abend vor drei Monaten verhaftet. Das sind 92 lange Tage und Nächte, die ich buchstäblich weg vom Fenster bin. Noch 183 vor mir, wenn sie mich zurück in den Osten entlassen und das ganze Drama von vorne beginnt.

Die Klappe geht auf und der kleine Obermeister Schäfer grinst in die Zelle. „Ein Liebesbrief“, feixt er und setzt zum Vorlesen an. Dann schweigt er und reicht mir satte vier Seiten von vorn bis hinten dicht beschrieben durch die Luke.

Oben links eine hübsche Zeichnung von Rostock-Warnemünde – Am Alten Strom. Rechts daneben „Gahlkow, 27. März“. Darunter „Grüß Dich, Jannot!“. Die Schrift kenne ich. Jetzt bin ich aber gespannt.

[…] Die Adresse, die ich mir geben ließ, sieht etwas wenig aus. Ich hoffe, dass Du die Zeilen erhältst. Durch die ganze Atmosphäre beim Gericht glaube ich nicht, dass ein Briefwechsel zustande kommt.

[…] Zur Zeit hat unser Lehrjahr alle Maschinen besetzt. Es geht jetzt voll in Schicht los bei der Frühjahrsbestellung. Wir wechseln genauso wie damals beim Pflügen.

Es wird gegrubbert, geeggt, geschleppt und schon angefangen mit Pflügen. Ich fahre die 17. Sie ist ein schnuckliger ZT geworden. Am Freitag wurde ein neuer Motor eingebaut. Am Donnerstag hat der alte nämlich gebrannt und das gesamte Zeugs ist bei der Ölwanne durchgeschlagen […]

Auch mussten wir im Schweinestall in Netzeband arbeiten. Jeweils vier Mann verbrachten dort zwei Wochen […] Die Schweine sind undankbare Geschöpfe. Einige von uns haben sich Flöhe geholt. Zum Glück haben sich die Viecher nicht lange gehalten […]  

Die Klasse V habe ich auch bestanden. Moskwitsch bin ich von Kemnitz bis Greifswald gefahren. Es ist ein ganz anderes Fahrgefühl […]

Nach Eurer Verhandlung war ich ganz schön mitgenommen […] Als ich die Aufgabe übernommen hatte Kollektivvertreter zu machen, hatte ich keine Ahnung, dass mich das Ganze so bewegen würde. Auch kam der Termin so überraschend schnell […]

Jannot, schreibst Du mir? Ich würde mich sehr über einige Zeilen freuen […]

Es grüßt Dich Antje

Im Kopf antworte ich, was ich ihr nie schreiben werde: Liebe Antje, mein tapferes Mädchen. Gut, dass Du in festen Händen bist. Sonst wäre ich jetzt schwach geworden.

Es war großartig, wie Du Dich vor Gericht für uns geschlagen hast. Willkommen im Club der wahren Gesichter. Die Betonköpfe haben ihre Verlogenheit gezeigt. Du Deine Ehrlichkeit und ich meine Entschlossenheit.

Wie gerne würde ich jetzt auf einem ZT 303 sitzen und wie voriges Jahr vor allem beim Pflügen mitmischen. Doch spätestens beim nächsten Mähdrescherballett werde ich vielleicht schon drüben sein.

Zugegeben, die  LKW-Prüfung hätte ich noch abwarten sollen. Diesen Führerschein im Westen zu haben, könnte hilfreich sein. Daran habe ich nicht gedacht. Doch wer weiß, ob und welche Dokumente mir die Bonzen überhaupt lassen, sobald sie mich verscherbeln. 

Liebe Antje, sei nicht traurig, wenn ich Dir nicht schreibe, selbst wenn ich es dürfte. Um diese Erlaubnis zu bitten, käme mir ums Verrecken nicht in den Sinn. Genau deshalb habe ich sämtliche Brücken abgebrochen. Damit mich nichts mehr korrumpieren kann. Lebe wohl, vielleicht für immer, Dein Jannot. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo