Donnerstag, 5. April 1984

„Greifswalder Schriftsteller mit sieben Buchstaben“, geht mir „Assi Blaschi“ auf den Sack. „Fallada“, antworte ich wie aus der Pistole geschossen (siehe Mittwoch, 18. Januar).

Nein!“, staunt er – „Doch!“, kontere ich –„Ohhh!“ stöhnt er. Das ist zwar kein Fallada-Zitat, sondern ein Kalauer aus „Hasch mich – ich bin der Mörder“ mit Luis de Funès und Bernard Blier. Ein spontaner Insider, an dem sich Kinogänger erkennen.

Dabei muss ich zwangsläufig an meinen geliebten „Fischkopp“ aus Greifswald denken, der sich mit einer filmreifen Episode für immer in mein Gedächtnis gebrannt hat. Zuletzt bin ich seiner Mutter begegnet, als ich frisch verurteilt Handschellen trug (siehe Montag, 12. März).

Er heißt genau wie ich Thomas Jan… Unsere Nachnamen weichen nur in den letzten drei Buchstaben voneinander ab. Mitte Dezember im selben Jahr geboren sind wir beide Schützen und in vielen Dingen auf einer Wellenlänge. 

Im Lehrlingswohnheim kappelten wir uns regelmäßig mit markigen Sprüchen und schmutzigen Witzen. Zuletzt in der Berufsschule in Eldena, wo ich ihn fragte, ob der kluge Herr „Fischkopp“ überhaupt in der Lage ist, eine der einfachsten Geheimschriften der Welt zu entziffern. Natürlich musste er passen, weil sie nur eine fiese Kritzelei ist:

Das ist ein Baum mit Nüssen. Hier hat jemand hingeschissen. Das ist hoch. Das ist niedrig. Das ist der Arsch von Kaiser Friedrich. Das ist der Busen von Tante Frieda. Und das ist die selbe Scheiße, wie die da.

Er revanchiert sich köstlich: „Herr Hallenser, jetzt zeig‘ ich Dir mal was“, holte er theatralisch in breit nasalem Norddeutsch aus und beginnt mit einem Stöckchen im erdigen Fußboden etwas zu zeichnen, das weder Fisch noch Fleisch ist:

Ja, richtig, das ist die DDR, die wie ein Fisch aussieht. Hier oben, wo der Kopf ist, da sind wir. Hier in der Mitte, wo das Herz ist, da ist Berlin. Und hier, da wo der Arsch ist, da ist Halle, das seid Ihr.

„Guter Mann!“, lacht mich „Blaschi“ herzhaft an. „Der könnte von mir sein“, kriegt er sich kaum ein. Zurück zu Fallada: Die meisten verbinden mit ihm nur seinen weltberühmten Roman „Kleiner Mann – was nun?“. Vielleicht noch „Jeder stirbt für sich allein“ oder „Bauern, Bonzen und Bomben“.

Was die wenigsten wissen, ist, dass er mal Rudolf Ditzen hieß, und sich im Knast von Neustrelitz seine schwere Alkoholsucht im Roman „Der Trinker“ von der Seele geschrieben hat. Außerdem soll er drogenabhängig gewesen sein und seine Frau im Rausch beinahe ermordet haben.

Von einem ehemaligen „Kollegen“, der mit einem Schließer aus der damaligen Zeit verwandt war, hat er gehört, dass Fallada 1924 hier in Greifswald in Zelle 32 gesessen und ein Tagebuch geschrieben hat, das verschollen ist.

Damals sei die U-Haft, in der wir beide gerade sitzen, ein Knast für „Kurzstrafer“ gewesen, weshalb Ditzen seine erste Gefängnisstrafe in unseren heiligen Zellen absitzen „durfte“. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo