Mittwoch, 18. Januar 1984

Wo wir hier gelandet sind, will ich von Jürgen wissen. Unser Knast befindet sich in der Domstraße so gut wie im Stadtzentrum von Greifswald, erzählt er.

Praktischerweise steht gleich nebenan ein wunderschönes Gerichtsgebäude, mit dem die U-Haft über mindestens einen Gang verbunden ist. Neben unserem gibt es einen weiteren Gebäudeteil für Frauen. Hans Fallada soll hier gesessen haben. Das war lange vor der Nazizeit.

Reisende, die in Greifswald aussteigen, aus dem Bahnhofsgebäude treten und in Richtung ZOB schauen, bekommen als erstes unser gruseliges Gebäude zu sehen. Das ist mir „früher“ nie aufgefallen. Wenn ich beim Umsteigen das düstere Gemäuer sah, dachte ich – huch, da sind ja Gitter vor den Fenstern. Sieht ein bisschen wie ein Knast aus. Dass hier Menschen sitzen und auf ihr Urteil warten, darüber habe ich nie nachgedacht. Und wenn schon – wer weiß, was sie ausgefressen haben.

So wird es Jürgens Prognose nach auch mir ergehen. In ein paar Tagen oder Wochen wird  sich ein Staatsanwalt vorstellen. Wenn er ein Fuchs ist, wird er mir Vortäuschung einer Straftat vorwerfen. Dann wäre ich ein Krimineller. Wenn er ein Betonkopf ist, wird er mich wegen versuchter Republikflucht rankriegen. Dann wäre ich ein Politischer. In beiden Fällen werde ich vor Gericht landen und mindestens zu ein paar Monaten verknackt werden. Kein Rechtsanwalt wird etwas daran ändern können.

Meine einzige Chance vom Westen freigekauft zu werden, besteht darin, dass Rechtsanwalt Vogel meinen Fall übernimmt. Dass ließe sich vielleicht begünstigen, wenn der Westen von mir erfährt. Deshalb ist es verdammt wichtig, keinesfalls meinen Ausreiseantrag zurückziehen, egal, was sie mit mir anstellen werden. Und das werden sie. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 … 

💡 Sie haben einen Linkedin-Account? Dann können Sie meinen Newsletter „Der 18-Jährige, der einen Zettel schrieb und verschwand“ abonnieren ✔︎ 

Matomo