Sonntag, 8. Januar 1984

So sieht also eine Gefängniszelle von innen aus. Ungefähr so, wie ich sie mir aus Büchern über die Nazizeit vorgestellt habe. Fünf Schritte lang, drei Schritte breit.

Anstelle einer ausklappbaren Pritsche ein Doppelstockbett längs der linken Wand. Rechts ein kleiner Tisch und zwei Stühle. In der Ecke zwischen Bett und Zellentür eine Kloschüssel und ein winziges Waschbecken mit einer schmalen Ablage darüber. Kein Kackeimer wie bei den Russen! Das nenne ich Fortschritt.

In der eisenbeschlagenen Zellentür aus massivem Holz eine trichterförmige Vertiefung auf Augenhöhe. In Hüfthöhe eine verschlossene Klappe in halber Größe eines Kantinentabletts. Gegenüber der Zellentür ein vergittertes Fenster, das nur mit einem Stuhl zu erreichen wäre. An der Decke eine schwache Kellerfunzel. Alle vier Wände vom Boden bis auf halbe Höhe mit einem dickem grauen Lack versiegelt. Unzählige Kritzeleien.

Gestern Abend haben sie mich hier eingeschlossen. Es gab sogar noch was zu essen. Zwei „Bemmen“ mit irgendwas und ein Becher irgendwas. Bislang keine wirklich bösen Worte. Nur „Halt!“ und „Gesicht zur Wand!“, wenn im Treppenhaus diverse Gitter auf- und wieder zugeschlossen werden oder Dritte den Weg kreuzen.

Früh am Morgen geht die Tür auf. Warmes Wasser wird ins Waschbecken gekippt und eine Rasierklinge ausgehändigt. Rasieren und Katzenwäsche. Irgendwann geht die Klappe auf und ein Frühstück wird durchgereicht. Zwei „Bemmen“ mit Marmelade und ein Becher Muckefuck.

Irgendwann Hofgang. Viele Runden mit unbekannten Männern in Zivil im Gänsemarsch im Kreis herum. Sprechen, Blickkontakt und Gestikulieren verboten. Hände auf dem Rücken verschränkt. Auf zwei Wachtürmen jeweils ein Uniformierter mit Fernglas und Gewehr. Irgendwann zurück in die Zelle. „Halt!“. „Gesicht zur Wand“. Einschluss. Irgendwann Mittagessen. Kartoffeln mit Soße und irgendwas. Dazu ein Becher irgendwas. Dann stundenlang nichts. Bis es draußen wieder dunkel wird und die Kellerfunzel angeht.

Auf dem Bett liegen ist verboten. Aus dem Fenster schauen ist verboten. Doch in den Westen fahren wollen ist auch verboten. Also lauschen, ob verdächtige Geräusche vor der Zellentür zu hören sind. Nein. Gucken, ob im Guckloch in der Zellentür ein Auge zu sehen ist. Nein. Dann einen Stuhl unters Fenster stellen und hinausschauen. Direkt gegenüber der Bahnhof von Greifswald. An der Bushaltestelle nach Lubmin Kollegen, die übers Wochenende daheim waren und zurück ins Wohnheim wollen. Ich kann sie tatsächlich sehen. Sie mich nicht.

Nach dem Abendessen fertigmachen zur Nachtruhe. Jetzt darf ich aufs Bett. Dann geht das Licht aus. Mit Tränen in den Augen grüble ich mich in den Schlaf. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo