Dienstag, 17. April 1984

Mit seiner Frage nach meiner Lehre hat mich „Assi Blaschi“ zunächst angenehm überrascht. Dann erzählte er eine krasse Story, die mir schwer zu schaffen macht.

Falls ich es je „rüber“ schaffe, soll ich mich bloß nicht nach Westberlin absetzen, begann er vorgestern seinen Vortrag. Dort könne mich die Stasi jederzeit zurückholen. So geschehen mit Dutzenden, die entführt wurden.

Ein gewisser Kurt Müller ist das prominenteste Beispiel. Im Jahr 1950 wurde er als westdeutscher Politiker verschleppt. Erich Mielke, der Chef des Ministeriums für Staatssicherheit, soll ihn persönlich verhört haben.

Von einem Knastbruder will „Blaschi“ wissen, dass es im Stasi-Knast in Berlin-Hohenschönhausen einen fensterlosen Keller gibt, der wie der Gefängnistrakt in der Lubjanka gebaut ist.

Dort soll es Zellen geben, die so klein wie Telefonzellen sind und mit Wasser geflutet werden können. Er will nicht wissen, was „KP-Müller“ dort aushalten musste, bevor er für Jahre im Gulag verschwand.

PS: Zehn Jahre später lernte ich den Sohn von Kurt Müller persönlich kennen: Dr. Paul Müller war von 1994 bis 1998 mein Chef im Vogel Verlag.

Nur weil ich bislang nichts dergleichen aushalten musste, heißt das noch lange nicht, dass es nicht passieren kann. Andersdenkende werden heutzutage anders gefoltert – und umgebracht. Ja, ich habe richtig gehört: Umgebracht. Ermordet. Getötet.

Es fängt mit „Zersetzung“ an. Die Stasi manipuliert Dein persönliches Umfeld solange mit subtilen Maßnahmen, bis Du durchdrehst.

Freunde, Bekannte und Verwandte wenden sich ab, weil sie Dich entweder für gefährlich oder für bescheuert halten. Am Ende landet man wie „Blaschi“ als Assi im Knast (siehe Sonntag, 25. März) oder in der Klapse.

Wer das übersteht und sich treu bleibt, läuft Gefahr, mit einer schleichenden Krankheit ins Gras zu beißen. Es soll einen Knast geben, in dem eine getarnte Röntgenkanone installiert ist.

Isolierte Staatsfeinde können unter einem Vorwand, zum Beispiel beim obligatorischen Fahndungsfoto eine Überdosis oder radioaktiv verseuchtes Essen bekommen. Sie erkranken an Krebs und sterben, selbst wenn sie es in den Westen schaffen. 

Tausende Typen wie mein Heimleiter (siehe Montag, 12. März) sind ein Grund, warum das System funktioniert.  Sobald die Worte „feindlich-negativ“ in meiner Akte landen, können sie mich jederzeit ohne Grund aus dem Verkehr ziehen:

Dafür soll es die „Direktive 67“ geben. Im Falle eines Falles werden geeignete Gebäude innerhalb kürzester Zeit in Internierungslager umfunktioniert. Zuletzt geschehen in Polen, wo seit 1981 Kriegsrecht herrscht.

OK, OK! Botschaft angekommen: Die Stasi kann mich zu allem zwingen und sogar vollständig aus dem Weg räumen, wenn sie es will.

Meine einzige Chance, unverletzt anzukommen, wohin mich meine Reise führen soll, ist, so lange wie möglich so lästig wie nötig zu bleiben, sonst aber die Fresse zu halten, damit sie mich wirklich „nur“ für Westgeld loswerden will (siehe Freitag, 6. Januar). 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

💡 Sie haben einen Linkedin-Account? Dann können Sie meinen Newsletter „Der 18-Jährige, der einen Zettel schrieb und verschwand“ abonnieren ✔︎ 

Matomo