Sonntag, 15. April 1984

Seit 100 Tagen „interniert“. Noch 174 vor mir. Endlich interessiert sich „Assi Blaschi“ auch mal für mich. Was ich in meiner Lehre konkret gemacht habe, will er wissen.

Vom ersten Tag an fleißig gearbeitet – so viel steht fest. Los ging’s mit niederen Jobs wie Rüben hacken, Melde rupfen und Rosenkohl ernten. Alles von Hand auf endlosen Feldern.

Rüben hacken ist eine Qual, weil man nicht sieht, was man schafft. Kilometerlang fest getrocknete Erde an zartem Grün lockern – sonst nichts.  Hüfthohe Unkrautnester aus Getreidefeldern rupfen ist nicht viel besser.

Beim Pflücken von Rosenkohl nach ersten Frostnächten bekam ich derart kalte Finger, dass ich zum ersten Mal ernsthaft bereute, mir diesen Scheißberuf angetan zu haben. 

Den Umgang mit Landmaschinen wollte ich lernen. Und warum welches Getreide unter welchen Bedingungen wie und wo am besten gedeiht. Dieses Wissen würde ich überall auf der Welt gebrauchen können, sobald ich in den Westen abhaue.

Doch bevor es besser wurde, kam es noch schlimmer. Bei der Rüben- und Kartoffelernte mussten wir tagelang langsam tuckernden Traktoren mit Anhängern hinterherlaufen und liegengebliebene Reste einsammeln. 

Dann kam die zermürbende Kartoffelsortieranlage. In der Frühschicht wurden wir drei Uhr morgens geweckt und in Bussen zu einem gewaltigen Hangar gefahren, in dem unzählige Förderbänder und Sortierroste lärmten – die „Klapper“.

Dort saßen wir in Begleitung reiferer Damen wie Hühner auf Stangen und sortierten alles, was keine Kartoffel ist, von breiten Sortiertischen mit beweglichen Rollen auf schmale vorbeiziehende Bänder, die den Unrat abtransportierten. Acht Stunden pro Tag – wochenlang.

Anfangs wurde mir ständig schlecht. Vom Geruch nach faulen Kartoffeln, toten Tieren und matschigem Dreck, den es mit beiden Händen aus tonnenweise vorbei ziehenden, wackelnden, hüpfenden, springenden, drehenden, tänzelnden und zitternden Knollenfrüchten zu trennen galt.

Wenn die Bänder anhielten, musste ich minutenlang gegen einen heftigen Links- oder Rechtsdrall würgen – je nachdem, auf welcher Seite ich am Sortiertisch saß.

Immerhin gab es einen ordentlichen Schichtzuschlag, der diesen üblen Job erträglicher machte. Monate später durften wir endlich an Traktoren herumschrauben. Dann kamen die Schwadmäher, Häcksler und Mähdrescher an die Reihe.  

Im Frühjahr 1983 bestand ich meine Fahrerlaubnis für Zugmaschinen und sämtliche Qualifikationen für diverse Landmaschinen. Damit konnte ich pflügen, eggen, grubbern und walzen – was wirklich Spaß gemacht hat.

Im Sommer ging die Getreideernte los. Sobald die Sonne aufging, fuhren wir „Mähdrescherballett“ bis in die Nacht, worauf ich echt stolz war.

Einen kolossalen Mähdrescher mit einem monströsen Schneidwerk und einer empfindlichen Dreschtrommel voll verantwortlich steuern, warten und auf engen Straßen von Acker zu Acker fahren zu dürfen, ist die Königsdisziplin, für die es richtig viel Geld gibt.

In einem Monat habe ich mehrere Hundert Mark verdient. Bis zum Erntedankfest wurden wir wie Erwachsene behandelt, was mir gefiel.

Deshalb muss ich überflüssigen Heimleitern widersprechen, die unsere Unterkunft mit einem Jugendwerkhof oder Internierungslager verwechseln (siehe Freitag, 13. April).

Weil wir unsere stinkende Dreckwäsche nach Feierabend selbst waschen und unsere redlich verdiente Freizeit ohne Nervereien verbringen wollen, habe ich keinerlei Verständnis für gebieterische Aufpasser, die zum Lachen in den Keller gehen.

Ob ich schon mal von der „Direktive 67“ gehört habe, stoppt „Blaschi“ meinen Monolog. Nein, natürlich nicht. Die könnte ich zu spüren bekommen, wenn ich nach meiner Entlassung im Osten bleiben muss, setzt er zu seinem Vortrag an. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo