Mittwoch, 21. März 1984

Heute Nacht mit Herzrasen aufgewacht. „Blaschi“, mein neuer Zellenkumpan eine Etage unter mir schnarcht noch tief und fest. Vom Schifahren im Riesengebirge geträumt.

Eine Zeit lang haben mich meine Eltern in den Winterferien nach Benecko in der Krkonoše mitgenommen. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich das erste Mal in meinem Leben richtig viel Schnee sah.

Die Straßenränder waren weiße Wände, die bis übers Autodach reichten. Manche Kurven waren so steil, dass wir mit dem Lada rückwärts rutschten und in meterhohen Schneehaufen vorm Abgrund landeten. Ohne Schneeketten mussten wir lange Umwege fahren, um ans Ziel zu gelangen.

Dort war es traumhaft. Mehrere Pisten mit Schleppliften. Vom Idiotenhügel bis zur Buckelpiste alles dabei. Nach nur einer Woche auf hölzernen Brettern mit antiker Seilzugbindung hatte ich es voll drauf, bis das Holz brach.

„Vati“ kaufte sich eine neue Ausrüstung und ich erbte seine Stiefel inklusive Ski mit Sicherheitsbindung, Stahlkanten und Stabilisatoren auf den Spitzen. Mit getönter „Uvex“-Brille bretterte ich sämtliche Abhänge runter und sprang hemmungslos viele Meter weit.

Wir übernachteten zu dritt in einem kleinen Zimmer mit Waschbecken in einer privaten Pension, die völlig eingeschneit war. Das Klo war auf dem Gang.

Gegessen wurde abends im Restaurant, wo es leckere „Knedlík“-Speisen gab. Morgens mussten reichlich Hörnchen in heiße Milch eingebrockt den ganzen Tag reichen.

Als mein kleiner Bruder auf die Welt kam und es ungemütlich wurde, bekam ich sogar ein eigenes Kämmerchen in der Größe eines Kinderbetts. Für einen Nachtkasten und einen Hocker war gerade noch Platz. Außerdem hatte es ein Fenster mit Blick auf die Piste. Für mich das Paradies auf Erden. 

Dann war Schluss. Mit 13 oder 14 durfte ich nicht mehr mit, weil ich irgendwas ausgefressen hatte. Die bittere Wahrheit ist, dass ich zu groß und es im Lada zu eng war.

Das hat wirklich wehgetan. Diese jährliche Woche im Februar hing mir so nach, dass ich die Skiabfahrten im Fahrstuhl zu Hause ernsthaft nachkurvte.

Sobald die Kabine aus der 12. Etage nach unten sackte, grätschte ich mich auf die Fußleisten. Dadurch gab die Waage im Boden nach und ich konnte die innere Fahrstuhltür während der Fahrt aufschieben.

Mit den Fingern fuhr ich auf der grauen Betonwand im Liftschacht Riesenslalom und sprang über die Türen der neunten, sechsten und dritten Etage, die in meiner Fantasie Schanzen waren.

Kurz vorm Erdgeschoss schob ich die Fahrstuhltür zu und stieg von den Kanten. Dann hatte mich die Realität wieder fest im Griff. Seit Jahren keinen solchen Spaß mehr gehabt.

Sobald ich es in den Westen schaffe, werde ich die nächstbeste Gelegenheit nutzen und in die Alpen fahren. Dort soll es ja auch im Sommer schneesichere Skigebiete geben (siehe Montag, 27. Februar).

Wenn ich nur irgendeinen Hinweis bekäme, dass meine Eltern Wuppertal informiert haben. Dann könnte ich ruhiger schlafen und mit weniger Puls vom Wintersport träumen. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

Was ich damals nicht wusste: Mein leiblicher Vater (siehe Freitag, 2. März) wurde im Februar 1982 vom Westfernsehen in Oberwiesenthal „gestellt“. Seiner Erinnerung nach gab er ein viele Minuten langes Interview. Tatsächlich zu hören und zu sehen sind nur wenige Sekunden (im Ausschnitt ab 14:37 der Herr ganz zum Schluss). Welchen Ärger ihm die freundlichen Worte eingebracht haben, hat er in seinem Buch „Erinnerungen an das 20. Jahrhundert“ ab Seite 290 geschrieben.

Matomo