Mittwoch, 15. August 1984

„Mariä Himmelfahrt“, orakelt Harald. Noch nie davon gehört. Mit einem Kribbeln im Bauch aufgewacht. Draußen geschäftiges Treiben. Widerhallende Motorengeräusche wie in einer Traktorenhalle.

Nach dem Frühstück alle Mann raus. Wir stehen in Reih und Glied vor unseren Zellen. Gut zwei Dutzend Kerle. Einzeln werden wir in ein „Büro“ gerufen. Ein Offizier überreicht mir eine Urkunde.

„Thomas Jannot / geboren am 15. 12. 1965 / in Merseburg / wohnhaft in Halle-Neustadt, Block 141/4 / wird gemäß § 10 des Gesetzes vom 20. Februar 1967 … aus der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik entlassen.

Die Entlassung … wird gemäß § 15 Abs. 3 des Staatsbürgerschaftgesetzes mit der Aushändigung dieser Urkunde wirksam. / Berlin, den 09. 08. 1984 / Ausgehändigt am 15. Aug. 1984 / Stempel. Unterschrift“.

Na also. Geht doch! Das ist mit Abstand die höchste Auszeichnung, die ich je in meinem Leben bekommen werde. Besser als die Lebensrettermedaille, die ich für meinen riskanten Einsatz vor über drei Jahren leider nie bekam (siehe Samstag, 28. Januar).

Zurück ins Glied. Dann die nächste „Überraschung“. Wieder einzeln in ein „Büro“. Ein Offizier überreicht mir einen Zettel.

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Authentischer Entlassungsschein vom 15. August 1984
„Entlassungsschein / Name JANNOT / Vorname Thomas / geb. am 15. 12. 1965 in Merseburg / wurde am 15. 08. 1984 nach der BRD entlassen. / Er/Sie befand sich seit (ohne Datum) in Untersuchungshaft/im Strafvollzug / Polizeifoto / Stempel / Unterschrift“.

Wie geil ist das denn? Ich glaub’s erst, wenn ich wirklich drüben bin. Der Stasi ist alles zuzutrauen. Wer weiß, womit sie in letzter Minute doch noch um die Ecke kommt – Stichwort „Zersetzung“ (siehe Dienstag, 17. April).

Jetzt wird es spannend. Die Richtung zum Hofgang im Betongatter stimmt nicht. Stattdessen geht es in einen anderen, größeren Hof – vermutlich derselbe, auf dem ich vor 16 Tagen im vollgereiherten Blechsarg hier angekommen bin (siehe Montag, 30. Juli).

Dort stehen zwei komfortable Reisebusse. Magirus-Deutz mit Ost-Kennzeichen. Beide mindestens genauso gepflegt wie die Busse, mit denen wir in Gahlkow zur Klapper gefahren sind (siehe Sonntag, 15. April).

Wir steigen ein. Dann kommen ein halbes Dutzend junge Frauen und mütterliche Damen hinzu. Wer weiß, was sie im „Roten Ochsen“, in Hoheneck oder sonst wo durchgemacht haben. Paare fallen sich fassungslos in die Arme. Eltern fragen nach ihren Kindern.

Ein älterer Herr steigt ein. Gestatten, Rechtsanwalt Vogel. Er wird uns bis zur Grenze begleiten. Nach ein paar freundlichen Worten steigt er wieder aus und wechselt in einen Benz.

Dann starten die Motoren. Eine stählerne Schleuse öffnet sich. Wir fahren hinein. Die Schleuse schließt sich. Ein stählernes Tor öffnet sich. Wir fahren hinaus. Es geht auf die Autobahn in die richtige Richtung.

Kurz vor der Grenze halten wir die Luft an. Vogels Benz fährt auf der Überholspur voraus. Vorbei an einer langen Schlange. Unsere Busse direkt hinterher. Die Schranken öffnen sich. Die Grenzer winken uns durch.

Eine befreiende Durchsage des Fahrers geht im grenzenlosen Jubel unter. Wir fallen uns gegenseitig in die Arme und fangen ungeniert an zu heulen.

Mir wirbeln eine Million Gedanken durch den Kopf. Noch bevor ich überhaupt anfangen kann, sie zu Ende zu denken, verändert sich die Welt vor meinen Augen:

Die Sonne strahlt heller.

Der Himmel leuchtet blauer.

Das Gras ist grüner.

Alle Straßen wie neu. Bunte Häuser. Schneeweißer Putz. Rote Dachziegel. Alles in Farbe. Ohne Grauschleier. Weit und breit keine qualmenden Schlote. 

Wir halten auf einem unwirklich sauberen Rastplatz. Steigen aus. Wollen eine rauchen. Atmen völlig klare Luft. Kein blauer Dunst. Nirgends stinkende Zweitakter. Das riecht viel besser als eine Kippe. Ich lasse es sein. 

Dr. Vogel verabschiedet sich. Beim Einsteigen haben die Busse westdeutsche Nummernschilder. Dann fahren wir weiter. Immer tiefer in den Westen.

Ich sehe mich wie in einem surrealen Kinofilm. Die Bonzen haben mir aus der Hand gefressen. Mein Plan hat funktioniert.

Etwas anstrengender als erhofft. Deutlich besser als befürchtet. Mit zwei Jahren habe ich gerechnet. Keine neun Monate hat es gedauert.

Das ist weniger als halb soviel, als ich bei der Fahne auf der falschen Seite demnächst erst vor mir gehabt hätte (siehe Donnerstag, 12. Januar).

Alles richtig gemacht, Jannot! Mach was draus. Finde Deinen Weg in diesem Deinen zweiten Leben, das heute beginnt:

„You Can Go Your Own Way / Go Your Own Way / You Can Call It Another Lonely Day / You Can Go Your Own Way / Go Your Own Way“ (Fleedwood Mac). 𝓔𝓷𝓭𝓮 𝓭𝓮𝓻 𝓖𝓮𝓼𝓬𝓱𝓲𝓬𝓱𝓽𝓮
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Matomo