Sonntag, 15. Januar 1984

Sie kamen gestern Abend. Drei Kerle. Der erste ein ausgewachsener Gockel, der wie mein Stiefvater aussieht. Der zweite fürchterlich groß und kräftig wie mein Cousin Siegfried.

Der dritte ein ganz normaler Typ wie mein Bruder. Sie wollen wissen, wer und warum ich hier bin, worauf ich so kompakt wie möglich antworte.

Dann sagen sie Regel Nummer 1: Niemals kurz vorm Frühstück, Mittag oder Abendbrot kacken! Regel Nummer 2: Beim Kacken sofort spülen, noch während die Wurst fällt! Niemals warten, bis sie zum Liegen kommt. Den Grund dafür werde ich noch oft genug riechen. Regel Nummer 3: Beim Arbeiten unbedingt die Norm schaffen, damit ich Naturalien kaufen, bunkern und tauschen kann.

Kurz vor dem Abendbrot fliegen zwei Zwiebeln durch ein kopfgroßes Luftloch weit oben über der Zellentür, das ich erst jetzt bemerke. Das Abendessen ein Festmahl. Zwei Schüsseln Quark, reichlich Brot mit Zwiebeln und Lauch! Dazu eine Kanne duftender Pfefferminztee. Ich komme mir vor wie in einem Gangsterfilm, wenn Paten dinieren.

Heute Morgen beim Frühstück derselbe Luxus: Anstelle meiner zwei „Bemmen“ mit Marmelade fliegende Semmeln durchs Luftloch, hausgemachte Leberwurst aus einem Einmachglas im Wandregal und hartgekochte Eier. Keine Ahnung, wie sie an das Zeug kommen. Bloß nicht neugierig werden. Hauptsache, ich darf mitessen.

Die Kerle sind keine Schläger. Jürgen, wie mein neuer väterlicher Freund tatsächlich heißt, war selbstständiger Bäckermeister in Grimmen, der wegen angeblicher Steuerhinterziehung seit über einem Jahr hier festgehalten wird. „Siegfried“ ist nach einem Saufgelage vor ein paar Monaten hier gelandet, weil er im Suff ordentlich randaliert hat. „Andi“ weiß nicht so recht, was man ihm eigentlich vorwirft. Vermutlich „Arbeitsbummelei“, was ihm peinlich ist.

Jürgen rät mir dringend, meinen zufällig ausgewählten Anwalt zu feuern und stattdessen einen gewissen Wolfgang Vogel in Berlin zu nehmen. Er sei der einzige, der sich mit sowas auskennt. Außerdem brauche ich Geld, damit ich an Wertmarken für den Knastladen komme.

Zeit für einen zweiten Brief: „Liebe Eltern! Es geht mir gut. Bitte schickt mir etwas Geld. Besuchen braucht Ihr mich nicht. Ich habe einen Rechtsanwalt genommen und einen Ausreiseantrag gestellt. Grüßt bitte Onkel Werner, Tante Erika und Karin von mir!“. Morgen bekomme ich Arbeit. Dann sehen wir weiter. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽… 

Matomo