Alles wiederholt sich. Gestern einen Brief geschrieben: „Liebe Eltern! Wieder ist eine Woche vergangen, und somit bin ich meiner Hoffnung ein Stück näher.“
Was ich ihnen gern schreiben würde, muss ich für mich behalten. Doch ich will mich nicht beklagen. Im Vergleich zu den Jugendlichen, müssen wir „Altstrafer“ deutlich weniger aushalten.
Während wir unter der Woche nur fast alles im Laufschritt erledigen, im Gleichschritt marschieren und die Norm erfüllen müssen, werden sie zusätzlich geschunden, geschlagen und getreten.
Immer wieder höre ich Schreie aus dem Nachbarblock, wo sie untergebracht sind. Im Unterschied zu uns, die nur ein paar Runden exerzieren, müssen sie so lange marschieren, bis einer umfällt.
Ihre Chefs sind mehr oder weniger berüchtigte Schläger, die wegen Körperverletzung von der Schule geflogen und in der Frohen Zukunft gelandet sind.
Sie sind fast doppelt so groß und stark, wie die Schwächsten unter ihnen. Kleine Bengel, die von zu Hause ausgerissen sind und wegen Republikflucht verurteilt wurden.
Oder „Asoziale“, die sich für die falsche Lehre entschieden haben. Wie zum Beispiel „Ecki“, der Bruder einer Freundin. Seine Verurteilung ist einer der Gründe, weshalb ich als Lehrling mit meiner Flucht in den Westen gewartet habe, bis ich volljährig war (siehe Montag, 23. Januar).
Seine Eltern geschieden. Nach der achten Klasse die Schule beendet. Ausbildung zum Maurer in Buna (siehe Freitag, 27. Januar). Unentschuldigtes Fehlen im zweiten Lehrjahr.
„Er bummelte … die Arbeit“. „Strenger Verweis“ im Mai 1973. „Konfliktkommission“ im Juni. Schriftliche Erklärung. Erneutes Fehlen im Oktober. „Die (staatlichen) Organe … waren bemüht, den Angeklagten zu veranlassen, regelmäßig …“ zu arbeiten.
Nach 147 Tagen, die er Buna schwänzte, haben sie ihn verhaftet und „Im Namen des Volkes!“ wie einen Kriminellen verurteilt. Die Urteilsbegründung liest sich wie ein Nazi-Pamphlet:
"Seit dem 19.12.1973 geht er keiner Arbeit nach. Der Angeklagte hält sich ... in der Wohnung seiner Mutter auf und lässt sich von ihr finanziell unterstützen.
Außerdem Kontakt zu anderen gefährdeten Personen. Er lässt sich von diesen aushalten. Dieser Sachverhalt ergibt sich aus Einlassungen ...
Bei dem Angeklagten handelt es sich um einen schuldfähigen Jugendlichen. Der Angeklagte ist gesund und arbeitsfähig. Er entzog sich hartnäckig aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit.
Er lies sich von seiner Mutter und anderen aushalten. Dieses Verhalten ist nach § 249 strafbar (siehe Sonntag, 25. März). Der Angeklagte muss zur Verantwortung gezogen werden.
Da bei dem Angeklagten eine erhebliche soziale Fehlentwicklung feststellbar wurde und die Tat von einer erheblichen Intensität gekennzeichnet war, war es erforderlich, den Angeklagten in ein Jugendhaus einzuweisen."
„Ecki“ hatte keine Ahnung, wie lange er in der Frohen Zukunft für seine Arbeitsverweigerung sitzen muss. Das erfuhr er über ein Jahr später:
„Der Angeklagte wurde am 5.2.1974 wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung zur Einweisung in ein Jugendhaus verurteilt. Diese Strafe verbüßt er seit dem 7.3.1974 ... Aus einem Führungsbericht ergibt sich, dass der Verurteilte ... die richtigen Schlussfolgerungen ... gezogen hat ... Aus all diesen Gründen war es möglich, die Einweisung in ein Jugendhaus mit Wirkung vom 27.5.1975 zu beenden“
Das waren 446 Tage und Nächte in der Hölle nebenan. Für 147 Tage, die er sich als Lehrling in Buna geschenkt hat. Niemand hat ihn nach seinen Gründen gefragt. Weil sie keine Rolle spielen.
Dafür wird er sich ein Leben lang schämen. Und falls sich der Wind in diesem Land vielleicht doch einmal dreht – einmal verurteilte „Assis“ im Osten können genauso wenig mit Rehabilitation rechnen, wie die „Asozialen“, die in Hitler-Deutschland im KZ vergast wurden.
Ich muss an „Assi Blaschi“ denken, der sehr persönliche Gründe hatte, seine Arbeit hinzuwerfen (siehe Sonntag, 18. März).
Anders als „Ecki“ bin ich als erwachsener „Altstrafer“ mit einem politischen Paragraphen hier, für den es aus staatlichen Gründen keine Abschrift einer Urteilsbegründung gibt.
Zu meinem Glück, und weil ich es so wollte, bin ich keines dieser Kinder, die in der Frohen Zukunft um ihr kurzes Leben bangen müssen.
Zurück zum Brief an meine Eltern. Diesmal mit der hundertprozentigen Gewissheit, dass sie meine versteckten Botschaften sehr wohl verstehen:
„… Die beantragte Sprecherlaubnis für Euch beide, wird uns die Gelegenheit geben … Denkt bitte an ein kleines Paket mit Kosmetik, wie Creme, Seife und Haarwäsche, an Tabakwaren, Obst und eventuell einen ‚Kalten Hund‘. Vielleicht habe ich sogar Glück und ein Sprecher erübrigt sich …
Mir geht es soweit gut, nur dass mir in letzter Zeit vor Aufregung der Kopf qualmt. Was ein ‚Platz an der Sonne‘ alles so hervorrufen kann?! Grüßt … Tante Erika und die anderen von mir … PS: Ich brauche Vitamintabletten!!!“. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 ...