What About #HM21? Bedingt kritikwürdig. Oder: Wie es mit der Industrie 4.0 weitergeht.

Schade, dass es voriges Jahr nicht mehr geklappt hat. Dann wären wir alle — die Deutsche Messe AG, die Aussteller der Hannover Messe und wir Teilnehmer — dieses Jahr schon eine „Iteration“ weiter, um im agilen Jargon der Digitalisierung zu bleiben.

Denn die digitale Version der #HM21 hat gesessen: 90.000 (!) virtuelle Besucher, davon gut die Hälfte aus dem Ausland, sprechen für sich. Die Audio- und Videotechnik hat so gut wie perfekt funktioniert. Und die Website hielt dem Traffic stand. Einzig die mehrspurige Struktur der Veranstaltung und häufig erforderliche Logins trotz längst erfolgter Anmeldung waren etwas gewöhnungsbedürftig. Sonst gab es keine nennenswerten Pannen — vielleicht sogar nur diese eine …

#HM21, Tag 1

Als ausgerechnet der indonesische Präsident Joko Widodo in einem schwer interpretierbaren indonesischen Englisch sprach, war ich geneigt, die Live-Übersetzung einzuschalten. Es dauerte fast zehn Minuten, bis auf dem Simultankanal endlich was zu hören und das Gesagte deutlich besser zu verstehen war. In späteren Livestreams klappte das meist besser, sodass diese „Panne“ eine der ganz wenigen Startschwierigkeiten beschreibt, die man der #HM21, wenn überhaupt, vorwerfen könnte.

Die Video-Hommage der Hannover Messe an die bald scheidende Bundeskanzlerin, seit 16 Jahren eine der treuesten Besucherinnen der Hannover Messe, war angemessen, würdig und rührend. Mir hat sie, gelinde gesagt, sehr gut gefallen, weil kurz und knapp und ohne das sonst übliche Laudatio-Geschwurbel. Und der Mimik von Angela Merkel nach tat sie auch ihr gut. Was für ein denkwürdiger Kontrast zum „Merkel muss weg“-Geprolle, das sie sonstwo „Made in Germany“ ertragen muss!

Angenehm überrascht haben mich Dorothee Bär, Peter Altmaier und Annalena Baerbock. Ihre Wortbeiträge in den Podiumsdiskussionen waren meist griffig und ungeschminkt. Sie wirkten in der Sache deutlich kompetenter, als man es politischen Schwergewichten allgemein zutraut. Vor allem D. Bär konterte mindestens eine spitzfindige Frage so klar und sympathisch, dass ich mir fest vorgenommen habe, mir das Flugtaxi-Bashing vor ein paar Jahren gegen sie noch einmal genauer anzuschauen. Dass sie bei ihrer politischen Arbeit „den Mittelstand“ nicht vergessen solle, wie eine stereotype Forderung eines Verbandssprechers lautete, quittierte sie kurz und persönlich: Dort wo sie herkomme, gebe es so gut wie nur kleine und mittlere Unternehmen, die für sie sehr reale Faktoren der Wirtschaft seien, deren Ziele, Wünsche und Sorgen völlig selbstverständlich ihre ureigenste Sache sind.

Erstes Fazit: Wenn die #HM21 eine Präsenzveranstaltung so wie in den Jahren davor gewesen wäre, hätte ich mir die politischen Konferenzen keinesfalls „antun“ können. Zu sehr wäre ich damit beschäftigt gewesen, mich auf die Moderationen des Security-Forums zu konzentrieren und bestenfalls die Exponate der benachbarten Aussteller zu sichten. Zu Fuß von einer Halle ins Conference Center zu hetzen, um dem einen oder anderen „Großkopferten“ in überfüllten Konferenzräumen zu lauschen, war mir so gut wie unmöglich. Da musste erst Corona kommen, um die Deutsche Messe derart brutal in die Knie zu zwingen und endlich ein Format durchzupeitschen, das zur digitalen Agenda passt. Auch wenn oder gerade weil ich die Struktur alias Menüführung der #HM21 im Browser am ersten Tag noch nicht ganz kapiert hatte und ich mich nach einem Livestream häufiger wieder anmelden musste, als mir lieb war, bekam ich tatsächlich Lust auf mehr.

#HM21, Tag 2

Am zweiten Tag gab es genau wie am ersten keine nennenswerten Pleiten, Pech und Pannen. Im Gegenteil: Die Technik schien richtig in Fahrt zu kommen. Die Umschaltungen von Liveschaltungen und Einspielern funktionierte erstaunlich gut, sodass ich tatsächlich keinen Grund zum Nörgeln fand. Hier und da brach eine Livesession ab und nährte auf den ersten Blick den Verdacht, dass vielleicht doch etwas nicht stimmte. Mit etwas pragmatischer Denke wurde jedoch sehr schnell klar, dass es programmierte Uhrzeiten waren, die etwa fünf Minuten nach dem Ende einer Session auf Stopp beharrten. Meist genügte ein Klick auf die nächste, und alles war wieder gut. Ob das Otto Normalzuschauer ähnlich entspannt sah, kann ich nur schwer beurteilen. In den Livechats, die parallel zu den Livestreams stattfanden, bekam ich nichts mit.

Apropos Livechats — die waren meist anständig besucht. Es wurden tatsächlich mehr Fragen an die Referenten gestellt, als ich es von anderen Events gewohnt bin. Dabei ging es auch mal zur Sache. So kommentierte z.B. ein aufgebrachter Teilnehmer die zahlreichen Daumen-runter-Icons, auf die Hinz und Kunz jederzeit für alle sichtbar klicken konnten, wenn etwas missfiel, mit einer trotzigen Bemerkung, dies doch bitte sein zu lassen, wenn das Reizwort „Flugzeug“ im Kontext „Leichtbau“ aus politischen Gründen unerwünscht sei. Schließlich gehe es hier um technische Möglichkeiten und Notwendigkeiten.

Zweites Fazit: Nach zwei Tagen konzentriertem Dauerfeuer wird deutlich, wie erholsam eine Präsenzveranstaltung gegenüber einem digitalen Event sein kann: Stundenlanges Zuhören, vorzugsweise unter einem Noise-Cancelling-Kopfhörer, ist spürbar anstrengender als Binge Watching. Das Problem: Ein Netflix-Marathon am Wochenende auf der Couch ist was anderes als ein fokussierter Arbeitstag am Bildschirm. Während man früher schlicht abwesend, weil auf der Messe war, lauert bei mehrtägigen digitalen Events stets die Gefahr der Ablenkung. Je erfolgreicher man sich z.B. durch konsequentes Kalenderblocking dagegen wehrt, umso anstrengender wird es im Kopf. So bekam ich um 17:37 Uhr einen Tinnitus, der mich zum Feierabend zwang. 

#HM21, Tag 3, 4 und 5

Zugeben, am dritten Tag nutzten sich diverse Sprüche, wie z.B. dass vor zehn Jahren der Begriff „Industrie 4.0“ auf der Hannover Messe geprägt worden sei, allmählich ab. Außerdem nervten manche Moderatoren mit einfallslosen Schlussfragen wie, welche Forderungen dieser oder jener Sprecher an die Politik richten wolle. Als ob es nicht genug Gesagtes vs. wenig Getanes in den täglichen Nachrichten dazu gäbe. Deutlich besser waren handfeste Aussagen fachkundiger Referenten, die häufiger und konkreter als erwartet über Gaia-X (!), digitale Zwillinge, Klimaneutralität, Nachhaltigkeit und Energieeffizienz nicht wie von Totgeburten, sondern in real existierenden Beispielen alias Use Cases sprachen.

Sparen hätte man sich meinem persönlichen Geschmack nach das Thema Frauenpower am fünften Tag. Bei allem Respekt vor den Risiken und Nebenwirkungen bei Nichtbeachtung wirkte es ein wenig aufgesetzt — so als wollte man ausgerechnet denjenigen auf die Sprünge helfen, die die wenigsten Probleme mit starken Frauen haben. Stattdessen hätte ich mir mehr und gerne auch wiederholte Hinweise auf Ausstellungsschwerpunkte, Netzwerkmöglichkeiten und nachrichtenähnliche Einspieler zu aktuellen Exponaten gewünscht, die parallel zu den vielen Livestreams ein wenig untergingen, wenn man nicht sehr gezielt auf die virtuellen Stände der Aussteller klickte, deretwegen man früher die Hannover Messe eigentlich besucht hatte. Dafür hätte die #HM21 die „digitale Musiksprechstunde“ WunschWort.fm nutzen können, die mit zwei Moderatoren und meist nutzloser Buzzword-Comedy für Unterhaltung sorgte.

Drittes Fazit: Kein Zweifel, die #HM21 hat funktioniert. Vorausgesetzt, man hat ein konstruktives Interesse an Deutschland im Allgemeinen und der digitalen Agenda respektive Industrie 4.0 im Besonderen. Wer mittelständische Industriebetriebe für ausbeuterische Langschläfer hält, in maschineller Automatisierung den Feind sieht und auf digitale Fragen nur Amazon, Tesla oder Google antworten kann, der wird keine Freude an der Hannover Messe haben – egal ob traditionell, digital oder hybrid. Aber wer sich vorstellen kann, wie viele Arbeitsplätze, wie viel regionaler Wohlstand und sehr komplexer Wandel davon abhängen, darf eine eventuelle PowerPoint-Phobie gerne unterdrücken und wenigstens einmal im Jahr geduldig zuhören, hinschauen und interagieren, wenn es das Format erlaubt. Deshalb: Hut ab, Deutsche Messe AG – alles richtig gemacht! Respekt vor dieser brachialen Leistung, die für einen Erstaufschlag weltweit ihresgleichen suchen dürfte. So wird ein Schuh draus ;-)

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