Samstag, 6. Oktober 1984

Heute wäre ich aus der Frohen Zukunft zurück in den Osten entlassen worden. Zum Glück ist mein Fluchtplan aufgegangen.

52 wertvolle Tage sind mir erspart geblieben. Das sind sieben Wochen und drei Tage, in denen meine Metamorphose vom „Zoni“ zum „Bundi“ begann.

„Bundis“ nannten wir Teenager im Osten die Menschen im Westen. Jugendliche im Westen sagten hinter vorgehaltener Hand „Zonis“, wenn sie über uns sprachen.

Am 15. August 1984 sind zwei Busse voller Knackis im Notaufnahmelager Gießen in Hessen gelandet. Dort bekamen wir reichlich Essen, gutes Taschengeld, aphrodisierendes Waschzeug und eine gemütliche Unterkunft.

Die älteren, die bei der Fahne waren oder verdächtige Berufe hatten, mussten sich vom BND befragen lassen. Wir Jugendliche wurden nach ein paar Formalien rasch durchgewinkt.

Später fuhren Harald und ich mit dem Intercity in ein anderes Flüchtlingslager nach Unna-Massen in Nordrhein-Westfalen. Aus einer Telefonzelle rief ich das erste Mal Tante Erika in Wuppertal an.

Sie reagierte angenehm überrascht und ungewöhnlich liebevoll. Ja, komm vorbei – dann sehen wir weiter. Bin gespannt, was daraus wird.

In Wuppertal-Elberfeld stieg ich aus einem Bummelzug in die Schwebebahn nach Wuppertal-Barmen. Alles sieht genauso aus, wie auf den Postkarten, die bei Oma Frieda im Küchenschrank klemmen (siehe Dienstag, 17. Januar).

Ich meldete mich bei den Behörden, bekam einen vorläufigen Personalausweis und eine komfortable Unterkunft in einem gepflegten Wohnheim in der Bramdelle. Dann ging es zum Arbeitsamt.

Später kamen Onkel Werner und meine Cousine Karin in einem Audi 100 vorbei. Der sah von innen genauso aus wie das Raumschiff, mit dem ich im Frühjahr 1983 von Michendorf nach Potsdam getrampt bin (siehe Donnerstag, 12. Januar).

Wir beschnupperten und mochten uns. Im nächsten Supermarkt packte mir Onkel Werner den Kofferraum mit Fressalien voll.

Übers Wochenende wurde ich zum Mittagessen in den Kirbergweg eingeladen, wo sie in einer kleinen Mansarde wohnen.

Keine zwei Wochen später organisierten wir über einen persönlichen Kontakt in der Feuerwache einen Job auf einem Bauernhof etwas außerhalb von Wuppertal.

Für 600 Mark pro Monat, freie Kost und Logis könnte ich bei der Ernte helfen, was ich selbstverständlich sofort tat.

Dieses Glück währte jedoch nicht lange. Die primitive Unterkunft in einem ausgebauten Verschlag unterm Dach war grenzwertig.

Vor dem Frühstück, Mittagessen und Abendbrot mit dem alleinstehenden, kinderlosen Bauern und seinen betagten Eltern wurde ernsthaft gebetet. Weil ich es nicht tat, schauten sie mich grimmig an.

Nach der Ernte ging es nur ums Vieh. Den ganzen Tag Mist schaufeln, Kühe melken und ab und zu ein totes Kalb entsorgen. Von morgens fünf bis spät in die Nacht.

Sobald der Bauer mit seinem Trekker auf die Felder fuhr und ich den ganzen Dreck alleine machen durfte, verfolgte mich sein alter Herr und fuchtelte mit dem Krückstock, wenn ihm irgendwas nicht passte.

Als mich der Bauer in einer meiner wirklich seltenen Pausen in flagranti erwischte, kam prompt der Spruch „Dachtest wohl, dass Dir die gebratenen Tauben in den Mund fliegen“. 

So begann mein erstes Ende von einem, der auszog, sein Glück zu zwingen. Das soll’s echt gewesen sein? Für diesen Scheiß habe ich im Knast gesessen!

In meiner Not rief ich Onkel Werner an. Er verstand sofort. Ohne mir auch nur den Hauch eines Vorwurfs zu machen war er noch in derselben Nacht mit seinem besten Kumpel zur Stelle.

Wir warfen meine sieben Sachen aus dem Dachfenster direkt in den Kofferraum seines Raumschiffs und machten uns ohne Worte aus dem Staub.

Der Bauer schaute uns entgeistert hinterher. Da hat er die Rechnung wohl ohne den Knecht gemacht. Mein Onkel winkte ihm freundlich. Gleichzeitig zwinkerte er mir unmissverständlich zu, auf wessen Seite er steht.

Mannomann, fühlt sich das gut an. Dafür wäre ich in der Zone verhaftet und als Wiederholungstäter nach Paragraph 249 wieder eingesperrt worden (siehe Sonntag, 10. Juni).

Hätte, könnte, wäre – diese Zone liegt jetzt „jwd – janz weit drüben“, jenseits der Grenze im fernen Osten. 𝗙𝗼𝗿𝘁𝘀𝗲𝘁𝘇𝘂𝗻𝗴 𝗳𝗼𝗹𝗴𝘁 …

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Matomo