Sonntag, 5. August 1984

Mit „Autobahn“ von Kraftwerk im Hirn aufgewacht. Lange nicht mehr so entspannt geschlafen. Und das ausgerechnet in einem Stasiknast.

Anders als in der Untersuchungshaft in Greifswald dürfen wir den ganzen lieben langen Tag lang auf unseren Betten liegen. Wir fühlen uns wie auf einer Quarantänestation.

Mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass es rein gar nichts zu lesen, hören oder sehen und nichts zu tun gibt.

Nur drückende Stille. Einmal täglich „Hofgang“ im Betongatter. Sonst nichts. Wir gammeln von einer Mahlzeit zur nächsten.

In der Zelle stinkt es wie in einem Aschenkübel, weil wir eine Kippe nach der anderen qualmen.

Ab und zu werden wir aus der Zelle geholt. Einmal bekam ich Schnappatmung. Ich wurde in einen Raum geführt, in dem eine Apparatur auf Stelzen steht.

Sofort musste ich an die Strahlenkanone denken, von der „Assi Blaschi“ gefaselt hat (siehe Dienstag, 17. April). Doch dafür sieht alles viel zu gewöhnlich aus.

Eine Praktica mit großem Objektiv auf einem Dreibein. Hinter ihr ein Offizier ohne Schutzweste. An den Wänden keine verdächtigen Strukturen.

Vielleicht ist das Essen, das selbst für meine Gefräßigkeit reichlich bemessen ist, vergiftet? Doch Harald winkt ab, als ich ihm davon erzähle. 

Ja, davon habe er auch gehört. Aber nein, das kann nicht sein – dafür sind wir viel zu kleine Fische. 

Diese „Ehre“ gebührt nur politischen Schwergewichten, die gegen ihren Willen ausgebürgert werden. Wir sind ganz normale Handelsware.

Sein Wort in Erichs Ohr. Wir könnten ohnehin nichts dagegen tun. Im schlimmsten Fall stimmt es und wir werden irgendwann tatsächlich krank – so wie man vom Rauchen Lungenkrebs bekommen kann.

Darüber können wir uns den Kopf zerbrechen, wenn es soweit ist. Bis dahin ist es in jedem Fall besser, sich hier zu langweilen und auf das Beste zu hoffen, als im Uran von Wismut bis zum Strahlentod rabotten zu müssen.

Unsere Tage in der Zone scheinen so oder so endgültig gezählt zu sein. Gut, dass wir uns mit einem herrlichen Song von Karat darüber freuen können:

„Die Zeit / Sie wartet nicht / Sie gräbt sich ein in mein Gesicht / Mit jeder neuen Stunde“. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo