Sonntag, 29. April 1984

Ich bin kurz davor durchzudrehen. Nachts raubt mir der alte „Assi Blaschi“ mit seinem Geschnarche den Schlaf. Tagsüber nervt er mit Kreuzworträtseln.

Gestern wollte er mir was über „unsere“ Halloren-Kugeln erzählen. Dass die Hallenser Firma dahinter mal Mignon hieß und die älteste Schokoladenfabrik Deutschlands ist, die zweimal enteignet wurde und so weiter.

Merkwürdigerweise ist die blaue Packung mit 12 Kugeln selten bis nie Mangelware. OK, die „Pralinen“ schmecken besser als „Schlager-Süßtafel“, die ich nicht mal hier im Knast vermisse. Salzburger Mozartkugeln wären mir jedoch 1000x lieber.

Sehr viel mehr kann ich nicht dazu sagen, versuche ich „Blaschi“ auf mein Thema zu lenken, das mir durch den Kopf schwirrt: „Mein Punk, Dein Punk, Punk ist für uns Fallada“, würde ich jetzt texten, wenn ich unter meinesgleichen wäre.

Meinesgleichen – das sind Latzhosen-Blueser mit John-Lennon-Brille in Jesus-Latschen und Punk-Band-Gründer, mit denen ich voriges Jahr um die Häuser zog und bis zu meiner Verhaftung intensive Brieffreundschaften pflegte.  

Keine Ahnung, weshalb mich die Stasi seit meiner Verhaftung nicht darauf angesprochen hat, während sie früher immer alles ganz genau wissen wollte und wie getroffene Hunde bellend konfiszierte, was wir keinesfalls vertonen und singen sollten:

Vermutlich waren ihnen unsere ersten Texte noch viel zu blöd (siehe Dokumente). Stattdessen störte sie viel mehr und völlig zurecht, weil maximal gewollt, mein hässliches Aussehen.

Nach Johnny-Rotten-Frisur, die kurz vor meiner Lehre ein grüner Iro war, Sicherheitsnadel im linken Ohr und verspiegelter Sonnenbrille in einem auffälligen roten Rahmen kamen zu meiner abgenähten Kochhose eine grobe Fellweste über einem schwarzen Anarcho-Hemd, ein knielanger Ledermantel aus Rosenheim (!) und originale „Vopo“-Stiefel hinzu (siehe Mittwoch, 11. April).

In diesen Klamotten will ich mich von den „Stinos“ abgrenzen. Eben nicht uniform wegducken, wie es die meisten Angepassten tun, um nicht aufzufallen. „Das wollen wir doch mal sehen“ signalisieren. Kein Mauerblümchen sein. Sichtbar widersprechen. Zeigen, dass es Andersdenkende gibt, die gegen den Strom schwimmen.

Deshalb solche Texte, die ich jetzt gerne schleifen, im Ton verschärfen und mit einfachen aber krassen Akkorden unterlegen würde, bis – „Zu Schön, Um Wahr Zu Sein!“ – „Die Ärzte“ kommen und wir „Die Toten Hasen“ sind. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo