Sonntag, 17. Juni 1984

Heute muss ich an Opa Alfred, den Vater meines leiblichen Vaters denken, an den ich mich gerne erinnere. Es würde mich interessieren, wie er dazu stehen würde, dass ich im modernsten Knast der DDR sitze.

Politisch soll er ein beinharter Stalinist gewesen sein. Aber ein Gerechter mit Herz und Verstand, wie mein Bruder zu relativieren pflegte, wenn wir über ihn sprachen.

Nach dem Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 soll er in Buna für damalige Verhältnisse klar Stellung bezogen und seine Ablehnung von überzogenen Maßnahmen und falschen Verhaftungen zum Ausdruck gebracht haben.

Einem Polizeibericht zufolge seien mehrere Tausend Buna-„Pelzer“ am 15. Juli 1953 in einen Streik getreten und hätten die Abschaffung von Waffen, die Beseitigung von Wachtürmen im Betrieb, die Bezahlung von Streiktagen sowie die Freilassung von Verhafteten gefordert.

Obwohl Opa Alfred genau wie mein Vater (siehe Freitag, 2. März) und mein Bruder (siehe Samstag, 14. Januar) vermutlich auf der aus meiner Sicht „falschen Seite“ steht, könnte ich mir vorstellen, dass ihn meine Inhaftierung und Verurteilung auf die Palme gebracht hätten.

Einem 18-Jährigen mit abenteuerlichen Flausen im Dickschädel einen gehörigen Schrecken einjagen? Ja, in Ordnung. Aber wegen eines Zettels und einer grenzwertigen Zugfahrt für Monate einsperren? Nein, danke! Das wäre ihm vermutlich viel zu weit gegangen.

Möglicherweise wäre mein Verschwinden seine Zäsur gewesen, die ihn umgebracht hätte. Seine Enkel, die zwei Söhne seines Sohnes (meines Vaters), und die vier Söhne seiner Tochter (meiner Tante) gingen ihm über alles.

Er starb, als ich in die Schule kam. So wie es sich für einen guten Sozialisten gehört, kurz vor der Rente, damit er seinem Staat nicht auf der Tasche liegt.

Keine Ahnung, was aus mir geworden wäre, wenn Opa Alfred länger gelebt und den Anfang vom Ende der zunehmend russifizierten Zone erlebt hätte (siehe Dienstag, 14. Februar und Dienstag, 27. März).

Während ich beim Abkupfern einer Tattoo-Vorlage für einen Chef bin und sinnlos „simmeliere“, wie Oma Frieda zu sagen pflegte, wenn sie über Opa Hans nachdachte, der genau wie Opa Alfred viel zu früh gestorben ist, kommt Jens auf mich zu.

Er habe von einem 213er erfahren, dass die Werkzeugkisten, die wir produzieren, für ein schwedisches Unternehmen namens Ikea bestimmt sind, das in München eine Filiale hat.

Das wäre vielleicht die Gelegenheit, einen Zettel zu hinterlegen, um den Westen auf uns aufmerksam zu machen. „Auf gar keinen Fall“, knurre ich ihn an. Die Stasi weiß, wohin die Kisten gehen und wonach sie suchen muss.

Außerdem würde es mich wundern, wenn er diesen Schwachsinn ernsthaft in Erwägung zieht. Nein, natürlich nicht, beteuert er. Aber er wolle mit mir wenigstens darüber gesprochen haben.

Dann lass uns lieber über den Stand Deiner Ausreiseanträge sprechen, gifte ich ihn an. Hast Du überhaupt einen geschrieben und erneuert? Keine Antwort. Daraus kann ich nur schließen, dass er einen Rückzieher gemacht hat.

Zeige mir diesen 213er, der so viel über Ikea weiß, damit ich ihn mir zur Brust nehmen kann, baue ich ihm eine Brücke, damit er von seinem Dilemma ablenken kann.

Ein Rückzieher ist noch keine Schande. Wer weiß, was sie ihm versprochen haben. Das ist seine Entscheidung. Doch was, wenn er sich von oder gar zu einem Spitzel hat bekehren lassen, der mich in eine Falle locken soll? 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo