Sonntag, 12. August 1984

Langsam aber sicher geht mir die Stasi auf den Keks. Sie lässt sich verdammt viel Zeit. Anders als in Berlin-Hohenschönhausen, wo viel Böses geschieht (siehe Dienstag, 17. April).

Nichts dergleichen in der „Nischl“-Stadt. Eine ganze Woche ist vergangen, ohne dass irgendwas Schlimmes passiert ist. Im Gegenteil.

Anfang der Woche habe ich „zwangsläufig“ erfahren, wie viel Geld ich auf meinem Knastkonto habe: Etwas mehr als 250,- Mark.

Das ist der Lohn für Tausende Bakelit-Stecker, die ich in der U-Haft montiert und Hunderte Werkzeugkisten, die ich in der Frohen Zukunft für Ikea geschweißt habe.

Den sollte ich jetzt ausgeben. Dazu wurde ich in einen Raum geführt, der noch spärlicher als ein leerer Konsum eingerichtet ist. 

Dort kaufte ich mir ein Paar Halbschuhe und eine dunkle Hose. Den Rest verballerte ich in ein paar Schachteln Cabinet. Karo war ausverkauft. 

Sonst noch was? Nein, danke. Das Wechselgeld schenke ich der Staatskasse. Behalten darf ich nichts. Kein Umtausch in Westgeld.

Zurück in der Zelle, sind wir uns einig: Es wird endgültig abgerechnet – „auf Heller und Pfennig“. Dabei muss ich an Hörnchen in Gahlkow denken (siehe Freitag, 13. April).

Höchste Eisenbahn, mich in der Zukunft zu sehen. Im Westen will ich definitiv kein Punk mehr sein. Deshalb habe ich mir die Klamotten gekauft.

Für „Vopo“-Stiefel, Kochhose, Fellweste und Ledermantel habe ich keine Verwendung mehr. Einzig mein schwarzes Hemd könnte noch gehen (siehe Sonntag, 29. April). 

Und gegen das System, das uns mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit längst freikauft hat, werde ich ganz bestimmt keine Protestlieder texten.

Ob ich tatsächlich in die Landwirtschaft und später nach Kanada gehe, wird sich zeigen, sobald ich die Marktwirtschaft kapiert habe. Dafür wäre ich gerne bereit, noch mal die Schulbank zu drücken (siehe Samstag, 21. Januar).

Genau das will Harald tun. Sein Bild ist schärfer als meins. Unser Schulabschluss entspricht der so genannten „Mittleren Reife“. Damit wird er als Allererstes sein Abitur nachholen. In Bonn, wo seine Tante wohnt.

Dann will er nach Amerika. Er ist ein großer Fan von Arnold Schwarzenegger – ein Österreicher, der es in den Staaten sehr weit gebracht haben soll. 

Auf keinen Fall würde er wie die dritte Nase in unserer Zelle nach Westberlin wollen, wo man jederzeit zurück in den Osten entführt werden kann (siehe Dienstag, 17. April).

Haralds Entschlossenheit gefällt mir. Wir klatschen uns ab und stimmen „The Star Spangled Banner“ von Jimi Hendrix mit unseren Luftgitarren an. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo