Sonntag, 11. März 1984

Mein zehnter und vielleicht letzter Sonntag in dieser U-Haft. Dafür, dass es mir morgen an den Kragen geht, habe ich erstaunlich gut geschlafen.

Die Selbstkonditionierung hat funktioniert. Das ist wie sich auf eine schwere Prüfung vorbereiten. Zu diesem Zweck habe ich mir angewöhnt, mich selbst zu fragen, was die gemeinste Frage wäre, die man mir stellen könnte.

Warum habe ich den direkten Weg ins Gefängnis gewählt, um in den Westen abzuhauen? Darauf gibt es eine strafbare Antwort:

Weil sämtliche Optionen riskanter sind. Oder sie dauern länger und sind weniger erfolgversprechend (siehe Donnerstag, 12. Januar). Deshalb lieber Knast als Nationale Volksarmee (siehe Donnerstag, 9. Februar), sofern die abzusitzende Zeit ungefähr gleich bleibt.

Weil ich früher oder später sowieso im Knast landen würde. Höchstwahrscheinlich wegen Befehlsverweigerung beim Wehrdienst oder wegen Wehrdienstverweigerung. Falls sie mich nicht so schnell eingezogen hätten, dann aus anderen politischen Gründen.

Meine „Republikflucht“ musste so ernsthaft wie möglich aussehen, damit sie nicht als harmloser Jugendstreich abgetan werden kann. Gleichzeitig sollte sie nicht krasser als nötig sein, damit ich nicht zu lange hinter Gittern lande.

Meine größte Befürchtung ist, dass mein Fluchtversuch als Vortäuschung einer Straftat gesehen werden könnte. Keine Ahnung, in welche Richtung sich das Ganze dann entwickeln würde.

Die Betonköpfe hätten mich wirklich überrascht, wenn wir nicht so früh verhaftet worden wären. Oder der Haftrichter keine U-Haft angeordnet hätte. Oder die Ermittlungen eingestellt worden wären.

Aber das werde ich für mich behalten. Denn ich will, das dieses Gericht mich nicht freispricht, sondern genau das tut, was ich mir als 18-jähriger, der einen Zettel schrieb und verschwand, ausgerechnet habe:

Mich aus politischen Gründen einsperren. Damit ich früher oder später in den Westen abgeschoben oder vom Westen freigekauft werde.

Das ist meine „Odyssee“, wie Udo singt: „… Auf kugelsicheren Kommandobrücken / Kranke alte Männer an eisernen Krücken … Odyssee , Odyssee und keiner weiß, wohin die Reise geht…“. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

Matomo