Samstag, 23. Juni 1984

Kurz bevor ich vorige Woche den „Ikea“-213er im Trakt gegenüber besuchen wollte, kam es zu einem heftigen Tumult im Speisesaal. Einige Strafgefangene reden gleich von einem Aufstand und wollen mitmachen.

Wir können Schreie und Gejohle hören. Mittendrin geordnetes Marschieren, das dem chaotischen Krawall widerspricht. Keins auf ausgelatschten Sohlen, sondern feste Stiefel mit harten Absätzen. Das kann nur ein Rollkommando sein.

Wenige Minuten später wird ausgerechnet ein Chef der Jugendlichen von zwei Uniformierten im Polizeigriff abgeführt.

Es ist dieser Brutalo im maßgeschneiderten „Blaumann“, der mit Uwe Sowieso am Tag unserer ärztlichen Untersuchung den kindlichen Jungen im Wartezimmer drangsaliert hat (siehe Dienstag, 15. Mai).

Er kann sich nur schwer gebeugt mit kurzen Schritten und verbogenen Armen in die Richtung bewegen, in die ihn die Uniformierten zwingen. Kein Mitleid. Höchste Zeit, dass dieser Schläger aus dem Verkehr gezogen wird.

Auf dem Sportplatz habe ich öfter gesehen, wie er mit sadistischer Härte die Jugendlichen bis zur Ohnmacht schleifte. Wer weiß, was er mit den Schwächsten in der Nacht getrieben hat. 

Uwe Sowieso, der Kumpel von Jens, dem ich auf den Straßen von Halle-Neustadt meist aus dem Weg gegangen bin, muss sich während des „Aufstands“ (?) in Zurückhaltung geübt haben. Zumindest wurde er nicht abgeführt.

Ob es eine gute oder schlechte Nachricht für Jens und mich ist, werden wir sehen, sobald sich das Verhalten unserer Chefs alias Kapos und/oder ihrer Miezen ändert (siehe Samstag, 19. Mai).

Irgendwer scheint weiterhin eine schützende Hand über uns zu halten. Nichts deutet darauf hin, dass sich der Wind bald drehen könnte. Im Gegenteil – die Gefahr könnte aus einer völlig anderen Richtung kommen.

Gestern Abend musste ich mal wieder zu unserem „Erzieher“. Der schöne Mann strahlt mich mit seinen faszinierend blauen Augen an und beginnt ein merkwürdiges Gespräch. Meine Gedanken überschlagen sich.

Was, wenn er ein schrankschwuler Fascho ist, der mich in eine Falle locken will? In seinem Büro hier hätte ich keine Chance. Die Chefs könnten draußen Wache halten, während er mich mit scharfen Waffen zu wer weiß was zwingt.

Er macht seltsame Andeutungen, die jedoch nichts Schwules an sich haben. Eher politisch. Wie ein Mentor, der testen will, wie ich zu meinem „Verbrechen“ stehe, für das ich inzwischen seit fünf Monaten und 17 Tagen sitze. 

Ob ich meinen Ausreiseantrag wirklich nicht zurückziehen will. Nein, auf gar keinen Fall! Wenn er noch mal fragt, werde ich gleich heute, spätestens morgen meinen nächsten schreiben. Irgendwas scheint hier im Busch zu sein.

Er lächelt schon wieder. Freundlich. Wohlwollend. Dann greift er genau wie beim letzten Mal wieder in seine Schublade und gibt mir einen Brief. Danke, Strafgefangener Jannot, Sie können gehen.

„Lieber Thomas! Wir haben Deinen Brief mit der Besuchserlaubnis erhalten … Wir werden am 8. Juli pünktlich da sein. Deinen Wünschen nach Seife usw. werden wir nachkommen. Wir verlassen ausnahmsweise unsere Prinzipen, wenn wir Dir Zigaretten mitbringen … Auch der Mama geht es gut. Sie reist viel in der Weltgeschichte umher und lässt Dich besonders herzlich grüßen …“.

Sie haben also meine Botschaften nicht nur verstanden, sondern sogar Plan B aktiviert (siehe Dienstag, 17. Januar). Morgen muss ich unbedingt den „Ikea“-213er befragen, was er noch so alles weiß und was er von diesen Fragen zum Ausreiseantrag hält, die mir der schöne Offizier mit den herrlich blauen Augen immer wieder stellt.

Um ihn aus dem Kopf zu kriegen, muss ich an Annette Humpe denken und mich mit Ideal im Ohr vergnügen: „Deine blauen Augen machen mich so sentimental / So blaue Augen / Wenn Du mich so anschaust wird mir alles andre egal / Total egal / Deine Blauen Augen sind phänomenal …“. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo