Montag, 9. Januar 1984

Rums-rums, rassel-rassel, schließ-schließ. Die Tür fliegt auf. Ein großer alter Schließer mit niedlicher Fistelstimme und einem auffallend zartem Gesicht bellt „Heraustreten!“.

Er tritt zurück, damit ich mich durch die Tür bücken kann. „Halt!“, „Gesicht zur Wand!“, damit er die Tür schließen kann. So geht das viele Meter, Treppen, Gänge und Gitter. 

Vor einer Tür nach draußen legt er mir eine Knebelkette demonstrativ härter als notwendig an und bricht mir dabei fast das Handgelenk. Dann führt er mich über einen anderen Hof in ein Nebengebäude. Dort erwartet mich ein Haftrichter.

Dringender Tatverdacht der versuchten ungesetzlichen Grenzüberschreitung. Der Versuch ist strafbar. Fluchtgefahr. Gewahrsam, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind. Stempel. Unterschrift. „Abführen!“. Die Fistelstimme schaut mich bedröppelt an. Vermutlich, weil es von Greifswald bis zur Grenze doch etwas weit ist. Auf dem Rückweg ins Zellengebäude lässt er die Knebelkette locker. Danke.

Kaum zurück in meiner Zelle fliegt die Klappe auf. Briefpapier und ein Kugelschreiber werden durchgereicht. Brief schreiben. „Liebe Eltern! Ich möchte Euch informieren, dass ich in Verwahr genommen wurde. Mir geht es gut. Macht Euch keine Sorgen. Demnächst werde ich einen Ausreiseantrag stellen. Bestellt Werner, Erika, Karin & Co. einen Gruß von mir. Liebe Grüße, TJ“. Mal sehen, ob sie die Botschaft verstehen und das Richtige tun.

Auch wenn mein Stiefvater ein eiskalter Arsch ist, der meinen großen Bruder aus dem Haus gebissen hat und in mir nur einen nützlichen Idioten sieht – in einer Sache sind wir uns verdammt einig: Dass die Zone am Ende ist und die Zukunft im Westen liegt. Im besten Fall wird er realisieren, dass das Wort „Ausreiseantrag“ in einem zensierten Brief aus der U-Haft ein klare Ansage ist: Es gibt nur eine Richtung. Informiere meine Verwandten in Wuppertal. Im schlechtesten Fall muss ich einen anderen Weg finden.

Rums-rums, rassel-rassel, schließ-schließ. Die Tür fliegt auf. Ein kleiner Schließer mit umgekehrt proportionalem Offiziersgehabe bellt „Heraustreten!“. Er tritt zurück, damit ich mich durch die Tür bücken kann. „Halt!“. „Gesicht zur Wand!“, damit er die Tür schließen kann. So geht das einige Meter und wenige Treppen in eine andere Zelle, die sein armseliges Büro ist.

Dort versucht er mich in ein Gespräch zu verwickeln und macht sich über meine Absicht lustig, einen Ausreiseantrag stellen zu wollen. Da könnte ja jeder kommen. Was er nicht weiß: Im November habe ich meinen ersten geschrieben, den ich nur noch zu bekräftigen brauche, da er längst Teil der Ermittlungen sein dürfte. 

Dann belehrt er mich über die Hausordnung und drückt mir einen Zettel in die Hand. „Auswendig lernen!“. Den Rest des Tages lerne ich die Dienstgrade auswendig, die ich gemäß Zettel an den Schulterklappen der Schließer erkenne und korrekt anzusprechen habe. Beim nächsten Mal, wenn die Tür auffliegt, heißt es einen Schritt zurücktreten, stramm stehen und „Herr Wachtmeister, ein Häftling und/oder ein Strafgefangener im Verwahrraum angetreten“ zu melden. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

Matomo