Mittwoch, 14. März 1984

Wieder allein. Nachdem sie mich am Montag in meine Gefängniszelle zurückgebracht haben, war mein Kumpel Andi weg. Arbeit bekam ich auch keine mehr. Viel Zeit für Hirngespinste und Zahlenspiele.

Das Gerichtsverfahren war kurz und schmerzlos, was mir normalerweise sehr gefallen hätte. Doch ich habe eine Stinkwut, weil mir die Betonköpfe tatsächlich auf den Leim gegangen sind.

Es kann doch nicht wahr sein, wie berechenbar diese Bande ist. Ohne mit der Wimper zu zucken haben mich die Bonzen im Schnellverfahren abserviert. Für einen Zettel mit drei Wörtern und eine beabsichtigte Zugfahrt ins Blaue.

Sie nennen das versuchte ungesetzliche Grenzüberschreitung – egal ob ich wirklich bis zum nächsten Grenzübergang gefahren wäre oder es mir unterwegs vielleicht anders überlegt hätte. So schwer wiegt mein Geständnis.

Neun Monate soll ich dafür büßen. Das ist halb so viel, wie mich die NVA kosten würde. Das bedeutet, dass ich am 6. Oktober wieder in die Zone muss. Das sind noch 206 Tage. 68 habe ich hinter mir.

Neun Monate dauern 276 Tage. Dividiert durch zwei sind 138 bis zur Halbzeit. Die wird am 22. Mai, ein Dienstag sein.

Bis dahin muss ich noch mal 69 Tage und Nächte ertragen. Von da an sind es noch mal so viele, wie ich seit Januar bis heute hinter mir habe – plus noch mal 68.

Demnach wäre heute oder morgen das „Viertelfinale“ – je nachdem, ob ich Freitag, 6. Januar, den Tag meiner Verhaftung oder Samstag, 6. Oktober, den meiner Entlassung mitzähle.

Weil mein Anwalt eine Korrektur meines „Antrags auf ständige Ausreise aus der DDR“ empfohlen und keinen Freispruch, sondern sechs Monate auf Bewährung gefordert hat, vermute ich, dass ich mich mindestens ein halbes Jahr gedulden muss, bis Dr. Vogel meine Abschiebung oder einen Freikauf erreicht (siehe Donnerstag, 2. Februar).

Sofern es überhaupt geschieht. Doch daran will ich nicht zweifeln. Mit etwas Glück senden mir meine Eltern ein Zeichen, dass Wuppertal informiert ist. Bis Mitte April kann ich darauf warten. Sonst muss ich Plan B aktivieren (siehe Dienstag, 17. Januar). 

Vorerst bleibt mir nichts weiter zu tun, als meinen „Ausreiseantrag“ eben nicht zurückzuziehen, wie meine Aufpasser es gerne hätten, sondern zu erneuern, wie mein Anwalt mir zugeflüstert hat (siehe Montag, 12. März). 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo