Freitag, 9. März 1984

Noch drei Tage und Nächte bis zum Prozess. Möglicherweise ist heute unser letzter Tag, an dem wir gemeinsam Bakelit-Stecker schrauben dürfen.

Mein Zellenkumpan Andi ist seit Montag Strafgefangener. Er kann jeden Augenblick in einen richtigen Knast abtransportiert werden. Wer weiß, was mit mir passiert, sobald ich mein Urteil kassiert habe.

Mit zwei Jahren muss ich rechnen. 18 Monate sind meine Hoffnung. Andi tippt auf ein Jahr. Weniger könnte sich mit einer Abschiebung beißen. Freispruch ist „zum Glück“ ausgeschlossen (siehe Samstag, 7. Januar).

Falls doch, dann müsste ich den gleichen Scheiß noch mal durchziehen, bis die Betonköpfe endlich kapieren, dass ich echt keinen Bock auf weitere Russifizierung in der SBZ habe.

Abgesehen davon, dass wir uns seit Wochen eine enge Zelle mit Doppelstockbett, einem Tisch und zwei Stühlen sowie den Lokus und das Waschbecken teilen müssen, sind wir gut drauf.

Das Montieren von Bakelit-Steckern geht uns leicht von der Hand. In eine Bakelit-Hälfte zwei Metallstifte in die Führungen legen. Die andere Hälfte auflegen und mit einer winzigen Schraube, Unterlegscheibe und Mutter fixieren.

Den fertigen Netzstecker in einen hüfthohen Papiersack werfen. Wenn pro Nase ein Sack voll ist, haben wir unsere Norm geschafft und 2,50 Mark mehr auf dem Knastkonto. Davon können wir uns Zigaretten, Süßkram und Kosmetika kaufen.

Am Vormittag irgendwann Hofgang. Je nach Wetter und Laune der Schließer mal kürzer oder länger im Gänsemarsch im Kreis herum. Hände auf dem Rücken. Sprechen, Blickkontakt und Gestikulieren verboten (siehe Sonntag, 8. Januar).

Der Nachmittag dauert am längsten. Wenn alles gesagt ist, bleibt nur noch Singen, Dichten oder Grübeln. Lesen geht bedingt, wenn beim Greifen, Fummeln, Schrauben und Papiersack treffen nichts aus der Hand fällt.

Am liebsten würde ich jetzt „Lust For Life“ von Iggy Pop hören. Da ich den Text nur rudimentär drauf habe und aus Rücksicht auf Andi, singe ich besser „Monotonie“ von Ideal:

„Monotonie in der Südsee / Melancholie bei dreißig Grad / Monotonie unter Palmen / Campari auf Tahiti, Bitter Lemon auf Hawaii …“. Weiter gehts im Bakelit-Programm. Im Osten nichts Neues. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo