Freitag, 27. April 1984

25 Tage bis zur Halbzeit. 112 Tage habe ich hinter mir. Noch 162 von 274 vor mir. Ab Dienstag, 22. Mai werden es weniger sein, als ich bis dahin hinter mir habe. Doch was dann?

PS: Was ich nicht wusste, ist, dass bereits am Donnerstag, 26. April 1984, nach 111 Tagen tatsächlich Halbzeit war. Seit gestern noch 111 Tage bis zum 15. August 1984, mein zweiter Geburtstag.

Keine Ahnung, was die kommenden 23 Wochen aus einem singenden Knastbruder machen, der sich mit noch mehr Knastbrüdern auseinandersetzen muss.

Bislang habe ich Schwein gehabt. Die Stasi hat mich in Ruhe gelassen, weil ich in meiner ersten Vernehmung gestanden, beim Thema Ausreiseantrag auf Durchzug geschaltet und vor Gericht keinen Rückzieher gemacht habe.

Rechtsanwalt Vogel hat mich auf dem Schirm (siehe Donnerstag, 2. Februar). Mein Stiefvater scheint mitzuspielen (siehe Dienstag, 27. März). Wuppertal weiß möglicherweise Bescheid (siehe Montag, 9. Januar). Und meine Gespräche mit Jürgen, Andi und „Blaschi“ haben mich darin bestärkt, das Richtige zu tun.

Doch das ist auch schon alles. Für die Außenwelt bin ich nur ein armseliger Punk, der seit mehr als einem viertel Jahr in den Mühlen der Justiz verschwunden ist und es lange bleiben wird, weil er irgendwas ausgefressen hat.

Ja, habe ich. Einen Zettel geschrieben, weil ich die Welt sehen will. So jung wie möglich in Nachtzügen durch Europa reisen. Amsterdam, London und Paris in echt sehen.

Nach Miami, Chicago und New York fliegen. Im Waldorf Astoria übernachten. Die Route 66 entlang cruisen und auf Roller Skates mit Strandschönheiten in Venice Beach umher kurven.

Verbotene Bücher wie „1984“ von George Orwell lesen. Einfach jobben, wo es passt. Oder eine Firma gründen. Indoktrination aus dem Weg gehen können. Mein eigenes Ding machen. Dafür habe ich mich einsperren lassen.

Was keinesfalls passieren darf, ist, den Tag meiner Entlassung im Osten erleben zu müssen. Das würde einen vergifteten Personalausweis „PM 12“, wöchentliche Meldepflicht im Polizeirevier, irgendeine idiotische Hilfsarbeit und noch mehr Einschränkungen meiner ohnehin eingeschränkten Reisefreiheit bedeuten.

Was zur Folge haben wird, dass ich so schnell wie möglich einen weiteren Fluchtversuch fingieren muss, um wieder im Knast zu landen, bevor ich einberufen werde. Dann als einschlägig vorbestrafter Wiederholungstäter mit handfesten Erfahrungen, die ich demnächst wohl oder übel machen werde. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

Matomo