Freitag, 16. März 1984

Heute Abend vor zehn Wochen haben sie mich aus dem Verkehr gezogen. Seit vier Tagen und Nächten bin ich ein verurteilter Strafgefangener. Weitere 29 Wochen soll das so weitergehen.

Wie muss man eigentlich drauf sein, 18 Jahre junge Menschen für die Worte „Let’s Go West“ auf einem Zettel mit neun Monaten Gefängnis zu bestrafen? Sie nennen sich Richter, die „Im Namen des Volkes“ urteilen.

Kluge Menschen, die Jura studiert haben, sitzen in ihren Roben und schwingen politische Reden, die kein normaler Mensch ertragen kann. Sie faseln von sozialistischen Errungenschaften, die es gegen verbrecherische Zettelschreiber zu verteidigen gilt.

Das Ganze im Schnellverfahren ohne den geringsten Anspruch, eine Unverhältnismäßigkeit oder gar Unschuld in Erwägung zu ziehen. Ob es in solchen Fällen je zu einem Freispruch kommt, wage ich zu bezweifeln.

Meine Gerichtsverhandlung hatte nichts mit dem zu tun, was in Kriminalromanen zu lesen oder in Fernsehfilmen zu sehen ist, wenn Rechtsanwälte die Argumentation des Staatsanwalts zu widerlegen und das Gericht vom Gegenteil zu überzeugen versuchen.

Ein Rechtsanwalt hat nichts zu melden. Im Gegenteil. Er bestätigt nur die Schuld, die bereits feststeht. In meinem Fall mag das okay sein, weil ich in diesem Spiel fleißig mitgepokert habe (siehe Sonntag, 11. März).

Aber was ist mit den armen Schweinen, die in etwas hineingeraten sind, was zwar so aussieht wie eine „versuchte ungesetzliche Grenzüberschreitung“, jedoch keine war?

Das muss vielleicht gar nicht geklärt werden, weil auch Staatsanwälte und Richter eine Norm erfüllen müssen. Damit die Gefängnisse voll genug mit unliebsamen Zeitgenossen sind, die man an den Westen verscherbeln kann. 

Nach Feierabend gehen sie nach Hause und erzählen ihrer Familie, über was für schlimme Verbrechen sie „Im Namen des Volkes“ heute urteilen mussten. Dann schalten sie heimlich die „Tagesschau“ ein, während das Volk im Knast sitzt. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo