Donnerstag, 17. Mai 1984

Die gemütlichen Zeiten sind endgültig vorbei. Heute sind wir eine Woche hier. Jeden Augenblick können wir auf die Gebäude gegenüber verlegt werden.

Keiner weiß, wer mit wem wo landet. Jeweils zehn Mann in fünf Doppelstockbetten auf 30 (?) Quadratmetern mit einer Kloschüssel werden wir sein.

Brutale Chefs und gefährliche Rudel soll es geben. Wir werden uns in der Nahrungskette von ganz unten nach oben beißen müssen.

Ohne es zu wollen, muss ich an „Assi Blaschis“ Geschichte über Buchenwald denken (siehe Ostersonntag, 22. April). In meinem Kopf läuft „Nackt unter Wölfen“.

Gestern haben die letzten Naivlinge unter uns begriffen, was auf sie zukommt. Es ist keine Frage, ob, sondern in welchem Tempo wir Scheiße fressen werden.

Im Gleichschritt ging es zum Essen fassen in den großen Speisesaal für alle. Dort wird im Minutentakt abgefertigt.

Das Anstellen vor der Kantine und an der Ausgabe drinnen dauert länger als die Nahrungsaufnahme. Alles auf Kommando. Es bleiben keine fünf Minuten zum Vertilgen. 

Vibrierende Stille. Nirgends wird gesprochen. Gelegentliches Geflüster. Verhaltenes Geklapper. Periodisches Stühle rücken. Lautstarke Kommandos.

Beim Mittagessen sehen wir einen Jugendlichen unbehelligt in die falsche Richtung gehen. Er bleibt stehen und kippt seine heiße Suppe einem anderen, der seine eigene löffelt, über den Kopf.

Der Bekippte sinkt zusammen. Seine Nachbarn springen auf. Wir müssen den Saal verlassen. Die Gruppe der Jugendlichen bleibt drinnen. Dann hören wir Schreie.

Mir bleiben nur noch Stunden, mich von mir selbst zu verabschieden. Mein Bauch sagt mir, dass ich ein anderer Mensch sein werde, wenn ich mich unter solchen Umständen behaupten muss.

Ein letztes Mal genieße ich die Leichtigkeit meines Seins im Zugangsrudel und singe in Gedanken den Punk, den ich so sehr liebe und vielleicht nie mehr genießen kann:

This Is Not A Love Song / Not A Love Song / Happy To Have And Not To Have Not / Big Business Is Very Wise / I’m Crossing Over Into Enterprize …“ von Johnny Rotten, Public Image Ltd. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

Matomo