Sonntag, 8. Juli 1984

Die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Mit der Gaukler Rock Band im Kopf „aufgewacht“: „Ich komm’ nicht hoch / Noch einmal umdrehen / Die Gedanken sind grau / Der Magen ist flau / Die Spucke schmeckt bitter / Im Arsch ist Gewitter …“.

Nach dem Frühstück werde ich ins Empfangsgebäude eskortiert. Diesmal nicht auf die Beletage wie am ersten Tag in der Frohen Zukunft (siehe Freitag, 11. Mai), sondern in einen Besucherraum. Dort sitzen – na gucke ma – meine Eltern.

Sie schütteln mit den Köpfen, während ich mich ihrem Tisch nähere. Und lächeln. Kein aufgesetztes Grinsen. Vielleicht ein klein wenig verspannt. Oder unsicher. Jedoch ohne Schimpf und Schande. Echt freundlich. Wohlwollend. Erstaunt. Ungläubig.

Mutti kriegt feuchte Augen. „Vati“ wird rot. Mir fehlen die Worte. Mann, was wir uns gestritten und geprügelt haben. Alles verziehen. Dass meine Eltern die Courage haben und mich im Knast besuchen, werde ich niemals vergessen.

Noch nie – in keinem Wochenheim, in keinem Ferienlager, in keinem Internat — nirgends haben sie meinen Bruder oder mich jemals besucht, selbst wenn wir ganz weit weg und sie in der Nähe waren. Dass sie heute ausgerechnet hier sind, ist ein unfassbar gutes Zeichen.

„Du verdammter Sturkopp“, bricht Mutti das Schweigen. Sie meint unser Gespräch, das wir im Dezember 1983 in ihrer Küche geführt haben (siehe Montag, 23. Januar 1984). Ich knutsche ihr einen Kuss zu.

Dann übernimmt „Vati“ die Regie. Sie waren im Riesengebirge und haben wie immer viele Karten an alle geschrieben. Karin kümmert sich um den Vogel. Mama war in Wuppertal. Alles wird gut. Mehr muss ich nicht wissen.

Dann wechselt er das Thema. Ob ich an Bücher komme und wie ich klarkomme. Dass unter der Woche keine Minute Zeit für Bücher bleibt und ich am Wochenende gut zu tun habe, muss reichen. Sehr viel mehr darf ich nicht sagen.

Vielleicht noch, dass ich in Greifswald viel gelesen, mein Französisch aufpoliert und ein wenig Englisch gelernt habe, füge ich hinzu. Und ich auf gar keinen Fall nach Hause zurückkehren werde. Wenn sie verstehen, was ich meine. Sie nicken.

Nach ein paar Belanglosigkeiten verabschieden wir uns. Sie haben mir ein Paket und eine Stange Karo mitgebracht. „Vati“ insistiert, dass ich sie keinesfalls alleine rauchen soll.

Die Sorge ist berechtigt. Diese Kippen stinken wie Zigarillos. Als radikaler Nichtraucher hat er keinerlei Verständnis, warum ich so scharf auf sie bin.

Weil ich damit handeln kann. Eine Schachtel Karo für eine Mark sechzig ist hier einen ganzen Wochenlohn wert. Das einzige Problem ist, sie sicher zu verstecken.

Zurück auf Station fallen wir über das Paket her, das unter anderem einen tranchierten „Kalten Hund“ enthält, den Mutti selbst gemacht hat.

Die Kanten mit der meisten Schokolade vertilge ich. Der Rest vom Schützenfest ist in Nullkommanix im Trakt verteilt. Vitamintabletten sind keine dabei. Die haben die Schließer als verdächtige Drogen konfisziert.

20 Kippen aus einer Schachtel Karo machen ebenfalls die Runde. Eine Schachtel behalte ich. Die restlichen acht gebe ich unserem schönen Offizier unter Verschluss. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo