Sonntag, 4. März 1984

Seit acht Wochen und zwei Tagen eingesperrt. Noch eine Woche und ein Tag bis zum Prozess. Mit zwei Jahren muss ich rechnen.

Im schlimmsten Fall sogar mit acht, wenn „die Tat zusammen mit anderen begangen wird“. So steht es im Strafgesetzbuch der DDR. Aber die können mich mal. 

18 Monate sind meine Hoffnung. Das genügt für einen Freikauf und entspricht der Zeit, die ich in der NVA dienen müsste. Wenn „Vati“ unsere Verwandten in Wuppertal informiert, geht es vielleicht schneller.

Mein Stiefvater hat es ab und zu geschafft, mich zu überraschen. Zuletzt im letzten Schuljahr, als er mir zum Dank für meine Arbeit an seiner Datsche (siehe Freitag, 24. Februar) einen tragbaren Mono-Plattenspieler überließ.

Damit konnte ich endlich „The Dark Side of the Moon“ von Pink Floyd, „Rumors“ von Fleetwood Mac und Bob Dylans „Greatest Hits“ hören. Diese Amiga-Schallplatten gab es eine zeitlang in der Stadtbücherei zu leihen.

Die Zeitfenster, um an solche Raritäten zu kommen, waren unberechenbar. Sofern sie überhaupt innerhalb der Ausleihfristen wieder auftauchten, wurden sie früher oder später meist geklaut.

Deshalb musste ich so schnell wie möglich an ein Aufnahmegerät kommen. Über drei Ecken gelang es mir, ein tschechisches Tonbandgerät namens „Tesla“ gegen irgendwas zu „kaupeln“.

Mein Cousin Lutz (siehe Montag, 30. Januar) schenkte mir ein halbes Dutzend leere Tonbänder. Eins mit drei der besten Songs aller Zeiten, die wir stundenlang rauf und runter hörten:

„Going to My Hometown“ von Rory Gallagher, „Whiskey in the Jar“ von Thin Lizzy und „2000 Light Years from Home“ von den Rolling Stones.

Kurz bevor ich in die Lehre ging gelang es mir noch, ein kleines Röhrenradio zu organisieren, mit dem ich endlich meinen Lieblingssender SR1 „Europawelle Saar“ auf Mittelwelle hören konnte. Aufnahmen waren damit undenkbar. Dafür blieb ich informiert.

Zusammen mit meiner defekten Jawa war ich bestens ausgestattet. Jetzt fehlt nur noch ein Reisepass. Deshalb sitze ich hier. Morgen muss mein Zellenkumpan Andi vor Gericht. Mindestens zwei Jahre wird er kassieren – soviel steht fest (siehe Freitag, 10. Februar). 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo