Sonntag, 3. Juni 1984

Der Rest der Woche war erträglich. Wenn es einen Stresswert auf einer Skala von null bis zehn geben würde, schwankt er je nach Tageszeit zwischen drei und neun.

Zum Vergleich: In der U-Haft in Greifswald hat er die meiste Zeit zwischen null und drei gelegen. Im Grotewohl-Express zwischen sechs und neun (siehe Montag, 9. Mai vormittags). In Magdeburg bei elf (siehe Montag, 9. Mai, nachmittags).

Was mich am meisten nervt, ist das hastige Essenfassen. Mickrige Portionen in wenigen Minuten runterschlingen. Keine Zeit, in Ruhe zu kauen. Schon gar nicht in ausreichender Menge (siehe Donnerstag, 17. Mai).

Seit frühester Kindheit bin ich ein bekennender Vielfraß, der immer und überall alles essen kann. Ein Mittagessen ohne Nachschlag ging und geht gar nicht. 

Daran ist in der Frohen Zukunft nicht zu denken. Die fünf Minuten, die morgens und mittags zum Verschlingen von irgendwas gerade noch reichen, um über den Tag zu kommen, bedeuten abends eine schlaflose Nacht mit knurrendem Magen.

Deshalb habe ich begonnen, Zigaretten gegen Butterbemmen fürs Wochenende zu tauschen – auch um mich nach einer Woche harter Arbeit zu belohnen.

Statt meine Ration beim Abendessen „im Laufschritt“ zu vertilgen, schmiere ich mir am Freitag, Samstag und Sonntag einen Nachschlag und schmuggle ihn so rasch wie möglich in den Schlafraum, um ihn seelenruhig nach Einschluss zu mümmeln.

Die Chefs schauen weg. Das Risiko, dass ausgerechnet ich von den Schließern beim Verlassen des Speisesaals gefilzt werde, ist relativ gering.

Systematische Durchsuchungen passieren eher tagsüber. Selten nach Einschluss. Falls doch, dann habe ich halt Pech gehabt.

Olli, der Totschläger und ich haben uns versöhnt. Er ist einfach nur ein dämliches Riesenbaby, das mit seiner überschüssigen Kraft nichts anzufangen weiß.

Wer ihm aus dem Weg geht und in seinem Beisein keine Lippe riskiert, lebt länger. Anders als Gaby ist er keinesfalls böse. Höchstens ein wenig zurückgeblieben. Damit kann ich umgehen.

Nur Gaby ist und bleibt eine tickende Zeitbombe, die jederzeit hochgehen kann. Wir haben noch kein einziges Wort miteinander gewechselt (siehe Freitag, 25. Mai).

Er ist ein eiskalter Schweiger, der zuerst zuschlägt, bevor er Fragen stellt. Bin gespannt, wann und wie es mich treffen wird. Darum werde ich mich kümmern, wenn es soweit ist. 

Bis dahin genieße ich die wenigen Stufen, die ich nach so kurzer Zeit in der Nahrungskette nach oben geklettert bin.

Rudi hat einen Deputy namens Peter, der zwar älter aber schwächer ist als ich. Von ihm droht vorerst keine Gefahr, zumal wir uns gut verstehen.

Die restlichen Nasen sind harmlose „Altstrafer“, genau wie ich – mit dem Unterschied, dass ich etwas kann, was sie nicht können.

Gestern hat mich Rudi zu seinem zweiten Deputy ernannt, was auf lange Sicht Stress mit Peter bedeutet, sobald Rudi entlassen wird. Auch darüber werde ich mir den Kopf erst zerbrechen, wenn es soweit ist.

Solange keine Konkurrenz nachrückt, werde ich an den Wochenenden mehr Briefe für „Krimis“ schreiben, Ausreiseanträge für Politische texten und Tattoo-Vorlagen für alle zeichnen, als auf dem Sportplatz exerzieren oder gar auf die Piste zu müssen. Endlich Zeit für einen kurzen Brief an meine Eltern:

"Liebe Mutti und lieber Vati! Ich habe Euren Brief angenehm überrascht erhalten. Ruhigen Gewissens kann ich Euch mitteilen, dass es mir den Umständen entsprechend sehr gut geht.

Dich, Vati, möchte ich bitten, einer eventuellen Besuchserlaubnis unbedingt nachzukommen, da es ansonsten zu Komplikationen kommen kann ...

Grüßt bitte die nähere Verwandtschaft von mir, und richtet Tante Erika aus, dass sie den Vogel ruhig nehmen soll, da ich mich augenblicklich sowieso nicht um ihn kümmern kann ..."

Wenn dieser Brief mit den namentlichen Erwähnungen meiner Wuppertaler Tante und Rechtsanwalt Vogel zuhause ankommt und mein Stiefvater mich tatsächlich in der Frohen Zukunft besucht, dann bin ich mir endgültig sicher, dass meine Gefangenschaft im freien Westen enden wird. Bleibt nur die Frage, wann?  𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo