Sonntag, 27. Mai 1984

Das Wochenende war durchwachsen. Statt Zwangsarbeit anderer Stress. Keine Zeit für einen Brief an meine Eltern. Ruhe haben geht anders.

Der Samstag fing mit einer Razzia an. Sämtliche Betten im Schlafraum wurden auseinandergerissen. Das Betongitter am Fenster Loch für Loch abgetastet. Die Fensterbank auf Ritzen und Rillen geprüft. Die Kloschüssel bis zum Ellenbogen abgefingert.

Danach wurden die Schränke im Aufenthaltsraum umgekippt und sämtliche Schuhe und Klamotten gefilzt. Dann war aufräumen und putzen angesagt. Alles wieder auf Karo und Kante gebaut. Mit ein paar Tricks kein Problem.

Nachdem endlich sowas wie Ruhe aufkam, ging es zum Exerzieren auf den Sportplatz. Im Gleichschritt Marsch! Runde für Runde. Dann war plötzlich Abhängen angesagt. Eine halbe Stunde in der Sonne den Jugendlichen zuschauen, die noch mehr getrieben werden als wir „Altstrafer“.

Peter Sowieso kommt auf mich zu. Ob ich ihm bei seinem Ausreiseantrag helfen kann. Klar, kann ich das: Schreibe einen kurzen Text. Berufe Dich auf die Schlussakte von Helsinki. Keine politische Prosa, worüber sie doch nur lachen. Auf Reisefreiheit pochen. Alles Andere ist irrelevant.

Dings kommt auf mich zu. Ob ich für ihn einen Brief an seine Freundin schreiben kann. Klar, kann ich das: Wie romantisch oder verliebt darf es sein? Ein kurzes Gedicht gefällig? Dings ist begeistert.

Er zeigt mir ein Foto von ihr. Ganz hübsch. Ob ich eine Kopie davon malen kann. Portraits mit Tinte zu tuschen hat mir mein Bruder beigebracht. Dann mal los.

Das Bild gelingt mir und macht die Runde. Ob ich mehr davon drauf habe. Ja, kein Problem, wenn ich an brauchbare Vorlagen zum Abkupfern komme. Zur Not geht es auch ohne. Das dauert jedoch länger, weil ich mehr korrigieren muss.

Sie fingern aus allen möglichen Verstecken bizarre Utensilien, mit denen ich eine perfekte Fälscherwerkstatt betreiben könnte.

Die Chefs stellen mich auf die Probe. Das ist meine Chance. Den Rest vom Wochenende muss ich diverse Vorlagen zeichnen üben.

Nach Einschluss am Samstagabend öffnet sich der Spion in der Zellentür. Ein Kehrblech wird zu einem Trichter geformt. Kochend heißer schwarzer Tee durch den Spion in Zahnputzbecher gekippt, die jemand in den Schlafraum geschmuggelt hat.

Rasierwasser macht die Runde. Jeder nippt einen Schluck vom Pitralon. Es kommt sowas wie Behaglichkeit auf. Rudi baut wieder einen Bus. Doch diesmal nicht zum Blasen, sondern um jemandem ein Tattoo nach einer Vorlage von mir zu stechen.

Der Sonntag verläuft ähnlich. Nur ohne Razzia. Nach ein paar Runden im Gleichschritt auf dem Sportplatz dürfen wir uns auf unserer Station im Block frei bewegen. Wir klappern die Trakte ab und schauen, wen wir kennen. Aber nein, nur Peter Sowieso.

Die Chefs lassen uns dennoch in Ruhe. Irgendwer scheint eine schützende Hand über uns zu halten. Peter flüstert mir zu, es sei bekannt, dass wir aus der Gegend und mit mindestens drei Knackis aus Ha-Neu bekumpelt sind, die seit Jahren in der Frohen Zukunft ein- und ausgehen.

Das stimmt. Aber reicht das? Es scheint zwei Lager zu geben: Die „Krimis“ lästern über die 213er (siehe Freitag, 27. Januar), warum wir alle „wie die Bekloppten in den Westen abhauen“ wollen. „Dort fliech’n uns de jebrad’nen Daub’n och bloß nich‘ in d’e Lawe“.

Die Politischen lästern über die „Krimis“, weil viele von ihnen „zum Scheißen zu blöd“ sind. Die Luft vibriert. Doch es fliegen keine Fäuste.

Die Anzahl der 213er scheint groß und erwachsen genug zu sein, um sich in der Gruppe gegenseitig schützen zu können. Wer darüber hinaus gute Kontakte zu stadtbekannten „Krimis“ hat, Briefe und Gedichte schreiben, Tattoo-Vorlagen kopieren und seine Fresse halten kann, ist klar im Vorteil.  𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo