Sonntag, 24. Juni 1984

Heute habe ich den „Ikea“-213er endlich erwischt. Er ist um die 30, Vater von zwei Kindern und ein studierter Idealist. Einer von denen, die das System von innen verändern wollten.

Nachdem er drei Jahre zur Fahne ging, durfte er studieren. Dann wurde er Kandidat der SED und bekam einen Job in der theoretischen Planwirtschaft. Weil er den Kontrast zur realen Mangelwirtschaft nicht ertragen konnte, versuchte er aufrichtig zu opponieren.

Das war sein Fehler. Für ein angepasstes Leben ist es zu spät. Motivierende Korrekturen oder gar Reformen zu Lebzeiten sind aussichtslos. Deshalb entschied er sich für Republikflucht, die er viel zu kompliziert plante.

Kluge Köpfe wie er neigen dazu, das vordergründig prollige System zu unterschätzen, mit dem sie sich hintergründig akademisch anlegen. Sie halten sich für klüger. Mit Ablehnung und Verrat können sie schlecht umgehen.

Er flog auf und landete wie Tausende vor ihm im Knast. Seine einzige Rettung wäre vielleicht eine inoffizielle Mitarbeit im „VEB Horch und Guck“ gewesen. Doch er blieb sauber. Ob das stimmt, kann ich nur schwer beurteilen.

Für seine Story spricht die Verbitterung, die er ausstrahlt. Er sehnt sich verzweifelt nach Frau und Kindern und leidet wie ein Hund darunter, wie ein gewöhnlicher Krimineller unter vielen Kriminellen eingesperrt zu sein, denen seine ökonomischen Fähigkeiten komplett am Arsch vorbeigehen.

Ein gemeiner Spitzel mit Aussicht auf Vergünstigungen müsste sowas wegstecken. Bei mir gibt es jedoch nichts zu bespitzeln. Vielleicht, dass meine Flucht „vorgetäuscht“ war. Na und?

Das einzige, was rein theoretisch noch machbar wäre, ist, mich zu einem Rückzieher vom Ausreiseantrag zu bewegen – so wie sie es vermutlich bei Jens geschafft haben. Oder mich zu einer weiteren Straftat zu verleiten.

Doch der Zug ist spätestens seit meiner Verurteilung längst abgefahren. Von mir aus soll der Sozialismus an seinen vermeintlichen Errungenschaften ersticken. Gebildete Familienväter wie der „Ikea“-213er bestärken mich nur darin, das Richtige getan zu haben.

Ihm geschah und geschieht genau das, was ich mit meiner frühen Flucht nach vorn vermeiden wollte. Er kann nur nicht glauben, dass ein ungehobelter Jungspund wie ich dieses Schicksal geahnt haben will.

Egal – die Frage, woher er weiß, dass die Werkzeugkisten, die wir produzieren, für „Ikea“ bestimmt sind, ist für mich geklärt. Und mit ihnen eine Botschaft nach drüben zu schmuggeln? Nur ein naiver Versuch eines desillusionierten Klugscheißers.

Bleibt noch, was er über Ausreiseanträge im Allgemeinen und das Verhalten unseres gemeinsamen „Erziehers“, der auch seiner ist, im Besonderen weiß.

Er habe gehört, dass die Freikäufe von Häftlingen vor Monaten eingestellt worden wären. Wie bitte? Mir wird schlecht. Ich muss kontrolliert atmen, um nicht zu kotzen.

Das Verhalten unseres schönen Offiziers decke sich jedoch mit einem Gerücht, wonach es vor kurzem wieder einen Transport von Ausreisewilligen in den Westen gegeben haben soll. Möglicherweise stehe ich auf einer Liste der Nächsten.

Seines Wissens nach werden vor dem Verkauf eines Strafgefangenen alle möglichen Instanzen befragt, ob es Gründe gibt, die dagegen sprechen. Seinem Bauchgefühl nach deutet alles darauf hin, dass zu meiner Person ein bürokratischer Ablauf in Gang gekommen sein könnte, von dem unser „Erzieher“ Wind bekommen haben dürfte.

Das klingt für mich nachvollziehbar und würde zu seinem Verhalten passen. Möglicherweise hat er tatsächlich ein Auge auf mich geworfen, weil er genau wie der „Ikea“-213er nicht so recht glauben kann, dass mein simpler Fluchtplan wirklich aufgehen könnte. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo