Sonntag, 15. Juli 1984

Gestern Abend nach Einschluss haben Rudi und ich „einen Bus gebaut“. Nicht um miteinander Spaß zu haben. Sondern damit er mir unbeobachtet mein Tattoo stechen kann.

Die erforderlichen Utensilien zaubert er aus einem Hohlraum unter der geschickt verkantet abnehmbaren Fensterbank und aus einer unfassbar verwinkelten Ritze in einer schwer erreichbare Ecke im Betongitter.

Womit er mir gleichzeitig zu verstehen gibt, dass ich nun eingeweiht bin und wonach die nächste Razzia suchen wird. Der kleine Peter steht an der Zellentür Schmiere. Sein Job ist es, darauf zu achten, was draußen passiert.

Manche Schließer haben es drauf, sich unbemerkt anzuschleichen, den Spion still und heimlich zu öffnen und in Sekundenschnelle die Tür aufzureißen, um uns bei was auch immer zu erwischen (siehe Dienstag, 10. Januar).

Merkwürdigerweise bin ich völlig entspannt. Rudi weiß, was er tut. Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass das Risiko, ausgerechnet an einem Samstagabend gestört zu werden, sehr gering ist.

Die ganze Aktion dauert wenige Stunden. Rudi bleibt von Anfang bis Ende extrem konzentriert. Er geht äußerst behutsam vor. Ich habe keinerlei Bedenken.

Die Nadel hat er mit Pitralon „desinfiziert“. Die Tinte ist von Profis gemischt, die sich mit den Risiken einer Entzündung auskennen. Der Rest ist Talent- und Glücksache.

Rudi hat Talent. Das habe ich auf diversen Körperteilen von Knackis gesehen, die er illustriert hat. In besonderen Fällen soll er sich zum Einschluss in andere Zellen geschmuggelt haben. Keine Ahnung, wie das geht. Aber es ist bezeugt.

Warum er nur eine Schachtel Karo haben will, will ich wissen, obwohl er weiß, dass ich noch mehr bei unserem schönen Offizier unter Verschluss habe.

Weil ich sein Nachfolger werde, und diese Aktion sein Übergabegeschenk ist, antwortet er. Alles, was ihm gehört, werde ich bekommen.

Einzige Voraussetzung ist, dass Peter mein Deputy bleibt. Auf keinen Fall Jens! Und dass ich seinen „Bläser“, der eben keine Mieze für alle ist, vor Übergriffen schütze.

Das sei mit den Chefs geklärt. Die werden mich in Ruhe lassen, solange ich keine Scheiße baue. Mehr Privilegien wird es nicht geben. Werkzeugkisten stanzen, Tattoo-Vorlagen malen und Schnauze halten – dabei wird es bleiben. 

Mit einer Ausnahme. Sobald er raus ist, werde ich an seiner Stelle abends in den Fernsehraum dürfen. Ob ich das brauche, wage ich zu bezweifeln. Kein Bock auf Kapo-Gefechte und DDR-TV.

Nein, keine Sorge. Niemand hat die Absicht, die „Aktuelle Kamera“, „Der schwarze Kanal“ oder „Der Staatsanwalt hat das Wort“ ertragen zu müssen. Die Plätze sind verhandelbar. Und Schlafraumälteste sind noch lange keine Chefs.

Mir schwirrt Nina Hagen, das verrückte Huhn durch den Kopf: „Ich schalt die Glotze an / Happiness, Flutsch Flutsch, Fun Fun / Ich glotz‘ von Ost nach West / Ich kann mich gar nicht entscheiden / Ist alles so schön bunt hier“. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo