Sonntag, 12. Februar 1984

Schrapp-schrapp, schrapp-schrapp, schrapp-schrapp. Ha-Neu. Jede Minute, die ich in dieser Zelle verbringe, macht mich kraftloser. Jede Minute, die Erich (Mielke, der Chef der Stasi) im Gebüsch kauert, macht ihn stärker.

Okay, Ha-Neu ist nicht Saigon. Das Filmzitat geträumter Unsinn. Und das Hubschraubergeschrappe vermischt sich nicht mit dem Wirbel eines Deckenventilators wie in „Apocalypse Now“. Es stammt von einem Helikopter, der über Greifswald kreist, als ich aus einem Tagtraum gerissen werde.

Authentische VHS-Aufnahmen vom und aus dem Block 141/4 in Halle-Neustadt im Frühjahr 1990

Ha-Neu ist die gängige Abkürzung für Halle-Neustadt. Die Stadt, in der ich 14 prägende Jahre meines jungen Lebens verbracht habe und in die ich nie wieder zurück will. Nicht weil sie eine schlechte, sondern eine hässliche Stadt ist.

Die meisten der über 90.000 Einwohner, die sie zeitweise zählte, waren heilfroh, eine standardisierte Wohnung in einem der unendlich vielen Betonsilos ergattert zu haben. Das bedeutete in erster Linie eine warme Bude ohne qualmende Kohleöfen. Heißes Wasser zu jeder Tages- und Nachtzeit. Und häufig auch ein Telefon.

Zwar teilte man sich eine Leitung mit einem Nachbarn. Das war aber 100 Mal besser, als zu einer defekten Telefonzelle laufen oder bei Oma Frieda in Teutschenthal die enteigneten Eigentümer einer Getreidemühle um einen Anruf nach Hause bitten zu müssen.

Und dann war da noch die geographische Lage. Im „Windschatten“ des Harzes gelegen hatten wir meist gutes Wetter und vor allem saubere Luft. Selten bekamen wir den Gestank aus Buna und Leuna zu riechen, wenn der Wind aus Richtung Merseburg wehte. Die Dreckschleuder Espenhain und die Chemiekloaken Bitterfeld-Wolfen lagen völlig außer Reichweite.

Außerdem hatten wir Ruhe. Zwar waren die Wände in den Betonklötzen sehr hellhörig. Aber von Straßenlärm oder Flugzeugen bekamen wir so gut wie nichts mit.

In Merseburg schossen die Russen mit ihren MIGs jede Woche im Tiefflug über die Stadt, um auf dem Militärflugplatz am Stadtrand Gefechtsbereitschaft zu üben. Wer das nicht gewohnt war, warf sich automatisch in Deckung, wenn ein Geschwader Kampfflugzeuge plötzlich und unerwartet in weniger als 30 Metern über die Dächer kratzte. Die Einflugschneise lag direkt über dem Krankenhaus, in dem Kathrin und ich geboren wurden. 

Zum Ausgleich mussten wir für ein Fahrradventil in die Altstadt von Halle fahren, da es in Ha-Neu keine Ersatzteile für irgendwas zu kaufen gab. Deshalb wurden sie ständig und überall geklaut. Wer es eilig hatte, klaute zurück, was geklaut worden war. Ein Teufelskreis.

Solche Städte soll es in Paris auch geben. Dort werden sie Banlieue genannt, wie wir im Französischunterricht gelernt haben. Und in einschlägigen Vororten von London sieht es auch nicht besser aus, wie in „Uhrwerk Orange“ zu sehen ist.

Weil ich dort nicht hin darf, bin ich hier. „This is the end, beautiful friend / This is the end, my only friend, the end …“, summe ich leise The Doors. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

💡 Sie haben einen Linkedin-Account? Dann können Sie meinen Newsletter „Der 18-Jährige, der einen Zettel schrieb und verschwand“ abonnieren ✔︎ 

Matomo