Sonntag, 1. Juli 1984

Als Dank für meine Rosen an seine Kirsche verrät Dings mir ein Geheimnis. Gaby, der kantige Brutalo, der noch kein einziges Wort mit mir gesprochen hat, wird demnächst entlassen (siehe Freitag, 25. Mai).

Von ihm droht definitiv keine Gefahr mehr. Er wird auf seinen letzten Metern kein Risiko eingehen und sich mit mir auseinandersetzen wollen.

Es gibt handfeste Gerüchte, dass er bei seiner Entlassung von Ehemaligen draußen aufgemischt wird, so tief ist sein Stern gesunken.

Das bedeutet, dass die Karten im Kapo-Regime neu gemischt werden. Zurzeit ist kein kapitaler Hirsch in Sicht, der aufrücken wird. Doch das kann sich täglich ändern.

Was Olli, Nobl und seine Mieze „Bums“ daraus machen, steht in den Sternen. Dings werde sich da so gut es geht raushalten. Doch garantieren kann er für nichts.

Erschwerend kommt hinzu, dass Rudi bald nach Gaby entlassen wird. Da ich neben Peter sein zweiter Deputy bin (siehe Sonntag, 3. Juni), wird er sich entscheiden müssen, wer sein Nachfolger wird.

Dings rät mir dringend, genau aufzupassen. Chef im Schlafraum bedeutet Teil des Regimes zu sein. Ein Kapo unter Kapos. Solange alle brav sind und niemand aus der Reihe tanzt – kein Problem.

Aber früher oder später würde ich hart durchgreifen müssen. Egal, ob mir das gefällt oder nicht. Jeder Kapo hat irgendwann Dreck am Stecken. Und mancher sogar Blut an den Händen.

Es wird nicht lange dauern, bis ein Krimi mich herausfordert. Peter ist ein stilles Wasser. Alt und abgebrüht genug, um es mir zu zeigen. Sein einziger Schwachpunkt dürfte Selbstüberschätzung sein.

Egal, wie es kommt, es wird ungemütlich werden. Mir bleiben nur wenige Tage, um die Weichen zu meinen Gunsten zu stellen.

Mir schwebt ein Tattoo vor, dass ich mir rechtzeitig vor Rudis Abgang von ihm stechen lasse.

Ein Tattoo, das mich den Rest meines Lebens daran erinnern soll, wie Scheiße tatsächlich schmeckt, wenn es mir in besseren Zeiten wieder einmal schlecht gehen wird.

Vorzugsweise im Westen, wenn die „Frohe Zukunft“ längst Geschichte ist. Und alle künftigen Komplikationen, die auf mich zukommen, Luxusprobleme sind, die ich aus heutiger Sicht sehr gerne hätte.

Sich ein Tattoo im Knast stechen zu lassen ist nicht nur streng verboten. Es braucht außerdem höchstes Vertrauen in denjenigen, der es sticht.

Ich wäre nicht der erste Idiot, der anstelle der gewünschten Vorlage eine peinliche Kritzelei mit einem hinterfotzigen Spruch beschriftet davontragen würde.

Ganz zu schweigen davon, was passiert, wenn die Schließer sehen, was sie nach jedem Duschgang mit routinierten Blicken kontrollieren.

Wenn ich angesichts der bevorstehenden Veränderungen nicht wieder ganz unten landen will, muss ich versuchen, die Kontrolle zu übernehmen.

So wie Bob Dylan es mir von der Seele getextet hat: „If your time to you is worth savin’ / Then you better start swimmin‘ or you’ll sink like a stone / For the times, they are a-changin’ …“ 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo