Samstag, 7. Juli 1984

Gaby, der kantige Brutalo wurde vergangene Woche entlassen. Ein paar Großschnauzen verbreiten die Nachricht, dass er draußen schwer „aufgeklatscht“ worden sein soll.

Mir stellt sich die Frage, woher sie das wissen wollen. Zugegeben – der Knastfunk ist deutlich besser als die Polizei erlaubt. Doch Informationen von draußen brauchen wesentlich länger.

Für mich ist das nur dummes Geschwätz. Genau wie die nächtlichen Rufe nach „Amme“. Vor größeren Feiertagen wie Ostern oder Weihnachten machen sich stets Hoffnungen auf eine Amnestie breit.

Alles, bloß das nicht: Eine Amnestie würde bedeuten, dass viele Kriminelle und vermutlich auch politische Ersttäter vorzeitig entlassen werden. Die nächste Chance besteht am 7. Oktober, zum Tag der Republik.

Das nützt mir herzlich wenig. Weil ich am 6. Oktober sowieso entlassen werde und ich bis dahin hoffentlich längst im Westen bin (siehe Mittwoch, 14. März).

Wenn es vorher zu einer „Amme“ käme, dann wäre meine Haft bislang völlig umsonst gewesen und ich müsste meine Flucht noch mal ganz von vorn beginnen (siehe Mittwoch, 7. März).

Zurück zu Gaby. Dass er draußen verprügelt worden sein soll, halte ich für ein Gerücht. Zumal er kein Idiot ist und mit Sicherheit Freunde informiert und Vorkehrungen getroffen hat.

Unabhängig davon habe ich nie gesehen, dass er Schwächlinge drangsaliert oder geschlagen hätte. Sein Regime hat mit feindseliger Schweigsamkeit und finsteren Blicken funktioniert. Bedrohlich hart. Sonst aber fair.

Jens und mir oder sonst jemandem aus unserem Schlafraum hat er nichts getan. Unterm Strich herrscht in seinem Trakt Ruhe. Keine blutigen Prügeleien. Keine nächtlichen Folterungen. Weniger Razzien.

Wer sollte ihn dafür bestrafen wollen? Unterlegene Konkurrenten, die seine Funktion gerne gehabt hätten. Wer die Norm erfüllen, seinen Stall sauber halten und die Fresse halten kann, hatte von Gaby nichts zu befürchten.

Olli, Nobl, Dings und Rudi haben ihren Führungsstil kaum verändert. Nur Bums wirkt aggressiver. Kann gut sein, dass er um seine privilegierte Stellung als Mieze fürchtet.

Wenn es zu Übergriffen kommt, dann werden sie vermutlich von ihm ausgehen. Darauf werde ich mich einstellen und reagieren müssen, wenn ich weiterhin meine Ruhe haben will.

Das Einzige, was zählt, ist in Ruhe gelassen und nicht für etwas bestraft zu werden, worauf ich keinen Einfluss habe. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, die Besuchserlaubnis meiner Eltern zu riskieren, weil ich mich aus den Spielen der Gefangenen nicht raushalten konnte.

Bis jetzt habe ich Schwein gehabt. Hoffentlich bekommen sie auf den letzten Metern keine weichen Knie. Die Stasi hat so ihre Methoden.

Wenn meine Eltern tatsächlich kommen und bestätigen, was ich in ihren Briefen zwischen den Zeilen gelesen zu haben glaube, dann müsste es mit dem Teufel zu gehen, dass mein Fluchtplan misslingt.

Morgen werde ich Gewissheit haben. Bis dahin kann ich mich mit dem „Grande Finale“ von Udo im Ohr über die Zeit retten: „Kein Horror in Sodom und Gomorrha / Immer lustig und vergnügt / Bis der Arsch im Sarge liegt …“. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo