In 14 Tagen hat meine Mutter Geburtstag. Sie wird 46. Zeit für eine Liebeserklärung. Wer weiß, wie lange die Post von hier zu ihr braucht. Lieber heute als morgen eine Karte basteln, bevor wer weiß was passiert (siehe Freitag, 25. Mai).
Sie liebt Blumen über alles. Deshalb zeichne ich ihr einen Strauß Rosen auf rauer Pappe. Und widme ihr ein paar „schräge“ Zeilen in meiner saubersten Schrift. Mal sehen, ob, wann und wie sie ankommen:
„Meine liebe Mutti! … Ich wünsche Dir Frische und Gesundheit und vor allem ein langes und sorgenfreies Leben … Ich bitte Dich … mich nicht als Sorge zu betrachten. Ich bin volljährig und habe lediglich den Wunsch, den Lebensraum zu wechseln …“.
„Dings“ schaut mir über die Schultern und bestellt dieselben Rosen für seine Kirsche (siehe Sonntag, 27. Mai). Was mich am Westen so fasziniert, will er wissen. Das ist für einen kriminellen Kapo eine verdammt freundliche Frage (siehe Samstag, 19. Mai).
„Mit Schund, Stunk und Punk überall auf der Welt Geld machen zu können“, antworte ich. Dazu fällt mir eine Anekdote aus der Schulzeit ein. Ausgerechnet mein Lieblingslehrer echauffierte sich damals über den vermeintlich sinnlosen Text eines Songs, der typisch für den Kapitalismus sei.
„One Way Ticket“ von Eruption heißt das Stück. „Stellt Euch vor, eine deutsche Rockgruppe würde ständig ‚Rückfahrkarte, Rückfahrkarte, Rückfahrkarte‘ singen“, versuchte er uns zu amüsieren.
In einem der nächsten Aufsätze schrieb die halbe Klasse darüber, wie doof der Westen mit seiner englischsprachigen Musik doch sei, wo dämliche Titel wie dieser allen Ernstes im Radio gespielt würden. Sowas könne in der DDR natürlich nicht passieren.
Das erinnerte mich doch sehr stark an die dämlichsten Worte eines ehemaligen Staatsratsvorsitzenden unseres prolligen Landes: Walter Ulbricht konnte die Beatles nicht verstehen, weshalb er 1965, im Jahr meiner Geburt, westliche Beatmusik verbieten wollte.
„Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt, […] sollte man doch Schluss machen.“
Gemeint war „Yeah! Yeah! Yeah!“ von den Beatles. Auch wenn ich ganz ehrlich nur Bruchstücke Englisch verstehe – lieber lebe ich dort, wo ich mit simplen Texten Geld verdienen kann, als hier, wo ich für drei Worte auf einem Zettel eingesperrt werde. So einfach ist das.
Doch damit nicht genug. Während im Westen Singer-Songwriter wie Joan Baez und Bob Dylan mit Protestliedern Erfolge feiern dürfen, werden Liedermacher wie Wolf Biermann oder Texte der Gaukler Rock Band (später Pankow) im Osten zensiert.
„Dings“ ist baff. Er hatte einen politischen Vortrag erwartet, dem er gar nicht erst hätte folgen können wollen. Mit einer „musikalischen“ Begründung hat er nicht gerechnet.
Er kommt ins Grübeln. Genau wie Andi vor ein paar Monaten, als er kapierte, was ich gegen unsere Armee habe (siehe Donnerstag, 9. Februar).
Zum ersten Mal in seiner kriminellen Karriere kann er einem 213er folgen. Weil er Eruption, Bob Dylan und die Beatles mag – obwohl er kein Wort versteht.
„Das geht noch krasser“, lege ich nach. Es gibt herrliche Songs, die aus unerklärlichen Gründen maximal unverständlich getextet und äußerst erfolgreich sind.
Wie zum Beispiel „Prisenconlinensinainciousol“ von Adriano Celantano, ein cooler Italiener, den ich sehr gerne höre, obwohl ich sein Kauderwelsch kein bisschen verstehe: „Prisencoli / Nensinalciusol / In de col men selvuan / Prisencoli / Nensinalciusol / Ol rait …“.
Das Video dazu spielt ausgerechnet in einer Schulklasse. Adriano gibt den Lehrer und begeistert köstlich tänzelnd seine Schüler. Die können nicht anders und machen mit. Das ist, was mich am Westen fasziniert. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …