Samstag, 21. Januar 1984

Heute duschen wir zu viert. Das Wasser fließt wärmer und länger, weil wir früher dran sind als „Neuzugänge“ wie ich vorige Woche. Und weil wir unsere Norm geschafft haben.

Nach dem Frühstück geht es wieder in die „Klapper“ – den ganzen lieben Samstag lang Papiersäcke, Bakelit, Stifte, Schrauben und Muttern. 

Was ich im Westen machen will, versucht Jürgen mich aus der Vergangenheit zu reißen und den Blick nach vorne zu richten. In meine Zukunft auf der anderen Seite – im „faulenden absterbenden Imperialismus“, wie Hardliner mit Verachtung zu ätzen pflegen, wenn es um Kapitalismus geht.

Farmer in Kanada will ich werden. Deshalb hat es mich nach Greifswald verschlagen. So weit wie möglich weg von „zuhause“. Und in der Hoffnung, dass meine landwirtschaftliche Ausbildung von Nutzen sein wird. In meinen kühnsten Träumen sehe ich mich als Chef meiner eigenen Firma. Irgendwas mit Computern.

Ein Nachbarsjunge im Plattenbau meiner alten Heimat hat tatsächlich einen primitiven Piko dat, an dem ich total fasziniert herumbasteln durfte. Irgendeinem Verrückten soll es damit gelungen sein, das Stellwerk einer Modelleisenbahn zu automatisieren.

Deshalb will ich bei nächster Gelegenheit kaufmännisches Rechnen lernen, um in der freien Welt mitspielen zu können.

Das klingt nach einem guten Plan, nickt Jürgen. Und dürfte in jedem Fall lukrativer sein, als seine selbstständige Karriere im Osten. Während wir in der Schule gelernt haben, wie ungerecht es war, dass Bauern im Mittelalter den Zehnt entrichten mussten, muss er verdammt viele Brötchen backen, um ein Zehntel von seiner Arbeit behalten zu dürfen. Sein Pech ist mein Glück. Hätte er keine Steuerfahndung am Hals, hätten wir uns niemals kennen gelernt. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo