Samstag, 14. Juli 1984

Heute hat meine Mutter Geburtstag. Ein wunderschönes Datum, das den frankophilen „Psycho Killer“ von den Talking Heads in mir triggert: 

„Ce que j'ai fait, ce soir là / Ce qu′elle a dit, ce soir là / Réalisant mon espoir / Je me lance vers la gloire … OK, Psycho killer / Qu′est-ce que c'est?“

In einem von Muttis vielen Regalen, die mit Schwarten aus dem Buchclub 65 vollgestopft sind, steht ein Buch über die Französische Revolution.

Sie hat am 14. Juli 1789 mit dem Sturm auf die Bastille begonnen. Eine komplexes Thema, mit dem sich meine äußerst belesene Mutter bestens auskennt. Hoffentlich sind meine Rosen angekommen (siehe Samstag, 30. Juni).

Wenn sie wüsste, wie sehr ich sie wirklich mag. Und wie sehr ich sie dafür hasse — und seit voriger Woche wieder liebe –, dass sie diesen „Onkel Rudi“ geheiratet hat (siehe Freitag, 17. Februar).

Ohne seine Hilfe wäre ich mir nicht so sicher, wohin die Reise geht. Auch wenn ich ihm egoistische Motive unterstelle, hat er seit meiner Verhaftung alles richtig gemacht (siehe Montag, 9. Januar).

Seine Briefe, sein Besuch und seine politische Einstellung sind gewaltige Hebel, die meinen Fluchtplan in die richtige Richtung beschleunigt haben. Da bin ich mir seit voriger Woche absolut sicher (siehe Sonntag, 8. Juli).

Womit ich wieder in Paris bin. Das ist das Erste, was ich tun werde, sobald ich es in den Westen schaffe. In die „schönste Stadt der ganzen Welt“ fahren, die den „Kindern vom Montparnasse“ gehört, wie Mireille Mathieu, der süße „Schnazjer“ in einem herrlichen Chanson trällert.

Von dort aus werde ich unserer Klassenlehrerin, die uns naive Französisch-Anfänger wider besseres Wissen belogen hat, eine extra große Karte schreiben (siehe Dienstag, 21. Februar).

Doch bis dahin muss ich erstmal die Frohe Zukunft überleben. Angesichts der Veränderungen in der Hackordnung, die seit Gabys und mit Rudis Entlassung bevorstehen, wächst akuter Handlungsbedarf (siehe Sonntag, 1. Juli).

Wie wär’s mit einer „Knastlilie“ auf dem linken Schulterblatt, die ich mir von Rudi höchstpersönlich stechen lasse, bevor er verschwindet? Ein Tränentattoo unter einem Auge kommt nicht infrage. Solche Insignien werfen nur Fragen auf.

Ich brauche etwas, was so groß wie nötig ist, um in geeigneten Situationen wahrgenommen zu werden, und so klein wie möglich, um nicht besonders aufzufallen. Außerdem will ich es nicht jeden Tag sehen müssen.

So erhöht sich auch die Chance, nach dem Duschen durch die Sichtkontrollen zu schlüpfen, wenn das Tattoo noch schorfig frisch ist.

Ich entscheide mich für eine stilisierte „Fleur de lis“ und beginne eine Vorlage zu malen. Drei Blätter werden von einem Band zusammengehalten.

Heute Abend werde ich sie mir aufs linke Schulterblatt hacken lassen. Rudi will eine Schachtel Karo dafür haben. D’accord. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

Matomo