Samstag, 10. März 1984

Noch 48 Stunden bis zum jüngsten Gericht. Extremes Kopfkino. Ich muss mich sattelfest konditionieren, damit ich vorm Kadi keine Schwäche zeige. Jetzt bloß nicht durchdrehen.

Dagegen hilft nur rationales Reflektieren. Die Kommunisten nennen das Selbstkritik, die ich umdrehen werde, wenn sie mich nötigen. Mein Schuldeingeständnis ist klar und deutlich:

1. Ja, ich will hier raus, weil ich die Welt sehen will. Ja, ich habe gewartet, bis ich volljährig bin. Ja, ich habe die erstbeste Gelegenheit genutzt, um die Reise meines Lebens zu beginnen, solange ich noch jung bin.

2. Ja, ich habe die Wörter „Let’s Go West“ auf einen Zettel geschrieben, damit keine Missverständnisse aufkommen. Ja, ich wäre in den nächsten Zug gestiegen, der in den Westen fährt.

3. Ja, ich hätte an der Grenze meinen Ausweis gezeigt. Ja ich wusste, dass ich dafür verhaftet werden würde. Ja, ich würde es wieder tun, bis Ihr mich in den Westen lasst.

4. Nein, ich hätte keine Gewalt angewendet. Nein, es gab außer meinem mitreisenden Kollegen keine Komplizen, die davon wussten. Nein, ich werde meinen Ausreiseantrag nicht zurückziehen.

Das sollte genügen, um zu sehen, wie die hirngewaschenen Bonzen ihre Betonköpfe schütteln und „im Namen des Volkes“ urteilen. Doch wenn es unbedingt sein muss:

5. Der Sozialismus kann mir gestohlen bleiben. Der Nationalen Volksarmee werde ich niemals dienen. Ein Land, das seine Bürger bespitzelt und Fernweh mit Gefängnis bestraft, ist nicht mein Land.

Ende der Geschichte. Keine Ausflüchte. Kein Rückzieher. Keine Diskussion. Dieses Mantra werde ich runterbeten, bis es keiner mehr hören kann. Das habe ich von den roten Idioten gelernt.

Wenn ich genauso bescheuert wäre, dann würde ich jetzt das „Lied der Partei“ mit dem einzigartigen Satz „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“ singen. Stattdessen stimme ich lieber „Gegen die Strömung“ von Udo Lindenberg an.

„Die Spießer regen sich tierisch auf / Und reden von Beklopptomanie / Doch wir kichern uns eins und wissen / Die wahren Bekloppten, das sind die …“. Andi und ich fangen an zu heulen, was mir vor Gericht auf gar keinen Fall passieren wird. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo