Montag, 5. März 1984

Heute nur ein Sack Bakelit-Stecker, weil mein Zellenkumpan Andi vor Gericht muss. Kurz nach dem Frühstück holten sie ihn ab. Nächste Woche bin ich dran.

Wegen eines Zettels und einer beabsichtigten Bahnfahrt. Auf Zettel reagieren Diktaturen allergisch. Genau wie damals, als ich einen meiner ersten schrieb.

Im letzten Schuljahr bekamen wir eine neue Klassenlehrerin. Sie war klein und seltsam russifiziert. Die zierliche Dame versuchte ernsthaft mich noch mal so richtig zum Sozialismus zu bekehren. Alarmstufe Dunkelrot.

Nachdem sie mir im Februar ein brutales Zwischenzeugnis mit einer Fünf (ungenügend) in „Betragen“ und jeweils einer Vier (genügend) in „Ordnung“, „Fleiß“ und „Mitarbeit“ geschrieben hat, „begleitete“ sie mich im April 1982 zur Kriminalpolizei.

Dort wurde ich wegen eines Verses auf einem Zettel verhört, den ich während einer kirchlichen Veranstaltung geschrieben habe. Keine Ahnung, woher sie das wissen und was daran kriminell sein soll.

Doch damit nicht genug: Weil sie befürchtete, dass ich über die Mauer springen könnte, schloss sie mich von der Klassenfahrt nach Berlin aus, die ursprünglich nach Paris führen sollte (siehe Dienstag, 21. Februar).

Die Signale waren eindeutig. Sie und unser Direktor würden mich zur Abschlussprüfung eiskalt über die Klinge springen lassen, wenn ich mich nicht „füge“.

Womit sie nicht gerechnet haben: Für diesen einen Tag zog ich das abgelegte Blauhemd noch mal an und bestand alle Prüfungen in wichtigen Fächern mit „gut“. Erst dann warf ich es weg.

Gegen Mittag kam Andi zurück in die Zelle. Er wirkte gefasst, sagte jedoch keinen Ton. Nur eine Handbewegung: Zwei Finger. Ich nahm ihn in die Arme und drückte ihn an mich. 

Später fragte ich ihn, ob er ein schönes Lied hören mag. Er lächelte und nickte, worauf ich einen Schlager von Frank Schöbel anstimmte: „Zwei schöne Jahre, war das eine Zeit / Nie hab ich je eine Stunde bereut / Wir waren jung und verliebt und so blind / Zwei schöne Jahre, frag’ nicht, wo sie sind“. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

Matomo