Montag, 30. Juli 1984

Nach dem Frühstück wie jeden Werktag im Gleichschritt zur Zwangsarbeit. Plötzlich „Halt!“. Ein paar Namen werden aufgerufen. Meiner ist auch dabei.

Wir sollen raustreten und mitkommen. Es geht in ein anderes Gebäude. Im obersten Stockwerk werden wir in eine kleine Zelle mit schmalen Bänken an den Wänden gesperrt.

Nach und nach kommen weitere Gefangene hinzu, bis wir ein Dutzend sind. Wir schauen uns an. Keine bekannten Gesichter. Von jung bis alt alles dabei. 

Wir fragen unsere Paragraphen ab. Sechs 213er wie ich. Ein „Asozialer“, zwei „Staatsfeindliche Hetzer“, eine „Ungesetzliche Verbindungsaufnahme“, eine „Öffentliche Herabwürdigung“ und ein „Krimi“.

Unterm Strich mit einer Ausnahme elf politische Ersttäter. Keiner wagt zu äußern, was alle denken und die meisten hoffen.

Das könnte ein Transport in den Westen sein. Mein Puls schießt in die Höhe. Da hat sich der schöne Offizier also doch verquatscht (siehe Samstag, 28. Juli).

Jetzt bin ich aber gespannt, wie das enden soll. Im Grotewohl-Express direkt nach Westberlin kann ich mir kaum vorstellen (siehe Mittwoch, 9. Mai).

Niemand spricht. Jeder könnte ein Spitzel sein. Noch können wir jederzeit dorthin zurückgeschickt werden, wo wir zuletzt selektiert wurden.

Nach ein paar Stunden werden wir aufgeteilt. Vor mir steht ein grauer Transporter. Im Kastenheck ein halbes Dutzend Blechschränke, schmal wie Särge.

In einen muss ich rein. Kein Fenster. Keine Lüftung. Ordentlich sitzen geht nur mit kurzen Beinen. Meine sind zu lang. Schranktür zu. Dunkelheit. Enge. Wie in einem Sarg.

Dann das Anlassgeräusch eines Zweitakters. Vermutlich ein Barkas. Die Kiste schaukelt los. Mir wird schlecht.

Die Fahrt dauert ewig. Beim Versuch, mich zu setzen, knalle ich mit dem Kopf gegen Wände. Ab und an auch mit dem Gesicht.

Ich finde keine passende Sitzposition und lasse mich einfach sacken. Panik steigt auf. Kontrolliertes Atmen reicht nicht.

Ich beginne mich in „The Passenger“ von Iggy Pop reinzusteigern: „I am the Passenger / And I Ride And I Ride …“. Dann muss ich kotzen.

Irgendwann kommen wir an. Die Blechdose öffnet sich. Grelle Helligkeit. Ich taumle hinaus. Grauer Beton. Grauer Stacheldraht. Graue Uniformen.

Ein letzter Blick in meinen offenen Sarg, der von oben bis unten voller Innereien ist. Dann werde ich abgeführt – ohne dass ich sie wegmachen muss. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

Matomo