Montag, 23. Januar 1984

Das ist meine dritte Woche in Untersuchungshaft. Keine Aussicht auf irgendwas. Nach dem Frühstück geht es wie gehabt in die „Klapper“ – Papiersäcke, Bakelit, Stifte, Schrauben und Muttern. Irgendwann Hofgang, Mittag und Abendessen. Im Osten nichts Neues.

„Warum ausgerechnet jetzt?“, will Jürgen wissen. Im Frühjahr 1983 bekam ich meine „Aufforderung zur Musterung“. Nach diversen Scharmützeln mit der Polizei, Stasi, Parteisoldaten, Kreisgericht und Schiedskommission, war die Zeit reif, meine „Flucht nach vorne“ anzutreten, solange ich noch jung und robust genug bin, die Risiken und Nebenwirkungen zu ertragen. Einziger Haken – ich war noch keine 18 …  

Authentische VHS-Aufnahmen im Block 141/4 in Halle-Neustadt im Frühjahr 1990

Dezember 1983: Endlich volljährig. Was ich nun machen will, fragte meine Mutter. In den Westen abhauen, antwortete ich. Sie schwieg, als hätte sie nichts anderes erwartet. Keine entsetzte Sprachlosigkeit wie sonst nach heftigen Worten. Einfach nur ein verdammt erwachsenes Gespräch. Vielleicht unser letztes im ganzen Leben. 

Noch bevor ich bei der Fahne wegen irgendeiner Scheiße in Schwedt lande und Bonzen mein Leben betonieren, werde ich es versuchen, legte ich nach. Sie blieb gefasst. Kein Widerspruch. Mehr wollte sie nicht wissen.

Wenn meine Ausbildung in einem halben Jahr vorbei ist, würde ich genau wie mein Bruder in irgendeiner Baracke landen, bei nächster Gelegenheit ein Mädchen schwängern und heiraten, nur um vielleicht an eine bessere Bruchbude mit Option auf Plattenbau zu kommen.

Und sobald das Kind mich braucht, würde ich eingezogen und anschließend als Reservist immer und immer wieder aus meiner armseligen Welt gerissen werden, bis ich völlig angepasst und für große Veränderungen endgültig eingerostet bin. Besser jetzt mein Glück zwingen, als den Rest meines Lebens auf ein besseres zu hoffen. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo