Mittwoch, 9. Mai 1984, vormittags

Kateng-kateng, kateng-kateng, kateng-kateng. Wie ich dieses mich befreiende Geräusch früher geliebt habe.

Stundenlange Zugfahrten mit der Deutschen Reichsbahn, wenn die Achsen im hypnotisierenden Rhythmus über endlose Schienen ratterten.

Am liebsten nachts. Mit dem einzigen Unterschied, dass ich in die Ferne schweifend aus dem Fenster starren und jederzeit aussteigen konnte. Notfalls mit der Notbremse.

Diesmal sind die Fensterscheiben aus opakem Milchglas und grob vergittert. Neben mir sitzt Jens (siehe Freitag, 6. Januar). Vis-à-vis zwei unbekannte Gestalten.

Wir alle vier auf weniger als eineinhalb Quadratmetern mit acht Knien ineinander verzahnt. Jeweils eins im Schritt vom Gegenüber. Die Tür verriegelt und verrammelt.

Wir sitzen im berüchtigten „Grotewohl-Express“. Der ganze Waggon voll mit Knackis jeweils zu viert auf eineinhalb Dutzend Besenkammern verteilt und vor der Außenwelt versteckt.

Das nenne ich äußerst raumsparend. Immerhin können wir besser als Schlachtvieh auf seiner letzten Reise nicht umfallen.

Ich mag nicht darüber nachdenken, was passiert, wenn was passiert. Wie zuletzt am 29. Februar 1984 in meiner alten Heimat. Bei einem Zugunglück in Halle sollen viele Menschen draufgegangen sein. Nichts Genaues weiß man nicht.

Ausgerechnet gestern, am „Tag der Befreiung“, haben wir uns noch darüber unterhalten, wann und wie es weitergeht. Keine Ahnung – nur eins konnte mir „Assi Blaschi“ sicher sagen: Dass es verdammt ungemütlich wird.

„Pass auf Deinen Arsch auf“, waren „Blaschis“ letzte Worte, als sie mich vergangene Nacht aus der Zelle holten. „Worauf Du einen lassen kannst“. So alt wie er ist, werden wir uns aller Voraussicht nach nie wieder sehen. 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

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Matomo