Mittwoch, 9. Mai 1984, nachmittags

Wir stehen in der prallen Sonne. Seit Stunden Blindflug im Schritttempo. Quälendes Rangieren. Vorwärts. Rückwärts. Es dürften weit über 40 Grad in den Besenkammern sein.

Immerhin kommt ein Schließer und öffnet das obere Kippfenster. Wir hecheln nach Luft. Tödliche Stille. Aus der Ferne ein paar Stimmen. Russische Soldaten!

„Кто вы“ (Wer seid ihr)? „Заключенные“ (Gefangene)! „Бедные свиньи!“ (Arme Schweine)! „Где мы находимся?“ (Wo sind wir)? „Недалеко от Бранденбурга“ (Unweit von Brandenburg)!

Weil kein Wodka durchs Gitter passt, steckt mir ein Russe ein Zweimarkstück zu. Ich verstecke den „Aluchip“ in meiner Marschverpflegung.

Die Schließer verjagen die Russen. Dann geht es endlich weiter. Am späten Nachmittag landen wir in einer imposanten Betonburg, die kein Bahnhof ist.

Durch schwere Stahltüren geht es direkt vom Gleis über einen betonierten Hof in eine Nazikathedrale mit riesigen vergitterten Fenstern. Überall Stacheldraht:

Eine gruselige Mischung aus schwerem Eisen, blutigem Ziegel und grauem Beton. In der Empfangshalle stehen zwei Dutzend Uniformierte mit Helmen, Visieren, Schildern und Knüppeln bewaffnet. Neben ihnen Schäferhunde ohne Beißkorb.

Sie bilden ein Spalier, durch das wir hindurch müssen. Plötzlich heißt es „Halt!“. Sie schließen das Spalier und grinsen. Dann „Alles ausziehen!“. 

Wir ziehen uns aus. Die Klamotten kommen auf NVA-Decken am Boden. Die Köter lechzen nach unseren Schwänzen. Das Rollkommando fixiert uns ungerührt.

Nackt geht es tiefer ins Gebäude. Dort werden wir in einen Waschraum gesperrt. Dutzende Leiber auf engstem Raum. Schweißige Berührungen unvermeidlich.

Hässliche Männer mit Akne. Starke Männer mit trainierten Muskeln. Fette Schweine, die furchtbar stinken. Dünne Kerlchen, die Angst ausdünsten. Tätowierte Hirsche, die lüstern grinsen.

Was, wenn sie den Aluchip finden? Dann „Nachschlag“! Für jede Mark ein Jahr. Mir geht der Arsch auf Grundeis. Draußen wird es langsam dunkel.

Nach einer gefühlten Ewigkeit dürfen wir unsere Klamotten wieder anziehen. Während alle anderen auf Großraumzellen verteilt werden, lande ich in einem Tigerkäfig.

Zwischen der Kloschüssel und mir ein Gitter. Pinkeln, kacken oder kotzen nur mit Erlaubnis. Die Pritsche hochgeklappt. Kein Tisch. Kein Stuhl. Kein Fenster. Kein Essen. Kein Trinken. Dunkelheit. 

Selbstverständlich haben sie den Aluchip gefunden. Das ist mein Ende. „This is the end, beautiful friend / This is the end, my only friend / The end of our elaborate plans / The end of everything that stands …“ (The Doors in „Apocalypse Now“ – siehe Sonntag, 12. Februar). 𝓕𝓸𝓻𝓽𝓼𝓮𝓽𝔃𝓾𝓷𝓰 𝓯𝓸𝓵𝓰𝓽 …

Matomo